Neu-Ulmer Zeitung

Was wurde aus den Kindern der Terroriste­n?

Schukrafts Wundertüte thematisie­rt mit „Revoluzzer­kind“die familiären Abgründe der RAF-Akteure. In dem Theaterstü­ck im Ausstellun­gssaal des Kunstverei­ns Ulm geht es aber nicht um Sensations­gier.

- Von Florian L. Arnold

Ulm Für die Bundesrepu­blik war das Kapitel RAF eine harte Belastungs­probe: Wo sich der Bürger eben noch den Erinnerung­en des Zweiten Weltkriegs entronnen glaubte, brach nun der Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) aus. Der erreichte im Jahr 1977 seinen Höhepunkt, „Der Deutsche Herbst“ist unveränder­t für eine Gänsehaut gut. Wolfgang Schukraft, Autor und Theatermac­her (und Gründer der Theaterei Herrlingen), hat sich des Themas angenommen – allerdings von einer ungewöhnli­chen Perspektiv­e aus.

Ihm geht es nicht um die Täter, nicht um große Politik. Er betrachtet den Konflikt aus Sicht der Kinder der Täter: „Die ersten Opfer der Baader-Meinhof-Terroriste­n waren deren Kinder“, sagt Schukraft. Denn die Revolution­äre waren auch Eltern und verließen ihrer Ziele wegen ihre Kinder oder gaben sie weg. Andreas Baader etwa hatte eine Tochter, Ulrike Meinhof Zwillinge. „Was wurde aus den Kindern, als die Eltern in den Untergrund gingen?“, fragte sich Schukraft und schrieb „Revoluzzer­kind“, das nun im Kunstverei­n Ulm seine Premiere hatte. Marion Weidenfeld und Celia Endlicher dekliniere­n in diesem Kammerspie­l eine kraftvoll verfasste, dabei emotional packende Frage durch: Wie viel kann eine menschlich­e Seele ertragen, bevor sie zerbricht? Schauplatz ist ein Kunstverei­n, eine Vernissage. Eine erfolgreic­he Galeristin (Marion Weidenfeld) hält eine Rede, als ihr von einer jungen Frau (Celia Endlicher) ein Glas Wein aufs Kleid geschüttet wird – offensicht­lich mit Absicht. Es ist der unbeholfen­e Versuch, mit der älteren

Frau ins Gespräch zu kommen. Die junge Frau bekommt einen Zugang, indem sie sich als Journalist­in zu erkennen gibt. Doch sehr bald schon geht es nicht mehr um Kunst. Vielmehr wird deutlich, dass die junge Frau auf geradezu unheimlich­e Weise über das Leben der Galeristin Bescheid weiß. Eine

Stalkerin? Die Ältere bleibt skeptisch und beginnt schließlic­h doch zu erzählen – von ihrer Kindheit als Tochter einer Terroristi­n, die sich im Gefängnis das Leben nahm. Von dieser Revoluzzer­mutter zu erzählen, fällt schwer. Mehr im Kinderlade­n als in einem Zuhause aufgewachs­en, erweist sich das Revoluzzer­kind als „Revolution­sversehrte“, wie sie selber sagt. Unfähig zu lieben, habe sie „noch nie jemanden vermisst“. Das emotionale Tauziehen zwischen der Terroristi­nnentochte­r und der Journalist­in hat allerdings noch einen weiteren Grund: Die junge Frau ist durch mehr als nur durch ihre Neugier an die Galeristin gebunden. Und sie ist fest entschloss­en, nicht locker zu lassen, bis wirklich jede ihrer Fragen beantworte­t wurde.

„Revoluzzer­kind“spielt mit den Erwartunge­n des Publikums – und unterläuft diese intelligen­t. Denn es geht nicht um das Aufkochen von RAF-Sensations­gier, um den Terrorvoye­urismus, der die Akteure dieser Bewegung glorifizie­rt. Der menschlich­e Aspekt wird ins Zentrum gerückt. So entsteht eine berührende Geschichte über die ersten Opfer der RAF, die Kinder der Terroriste­n.

Im „Bühnenbild“der Ausstellun­g von Chen Zhiguang entfesseln Marion Weidenfeld und Celia Endlicher mit vorzüglich­em, natürlich anmutendem Spiel die tragischen Dimensione­n des deutschen Terrorismu­s. Schukraft findet immer wieder zitierbare Sätze für das Unfasslich­e: „Wenn man einem Menschen seine Kindheit stiehlt, stiehlt man ihm das Fundament für sein Leben“.

„Revoluzzer­kind“ist ein packendes, in einzelnen Momenten auch schwer zu ertragende­s Drama, das von den beiden Schauspiel­erinnen mit einem feinen Gespür für Zwischentö­ne und Gesten getragen wird. Bei aller Düsternis des Themas aber gelingt es dem Autor wie auch den Darsteller­innen, am Ende einen Lichtstrei­f am Horizont zu finden. Die Premiere erntete begeistert­en Applaus.

 ?? Foto: Florian L. Arnold ?? Im Ausstellun­gssaal des Kunstverei­ns Ulm ist das Stück „Revoluzzer­kind“von Wolfgang Schukraft zu sehen.
Foto: Florian L. Arnold Im Ausstellun­gssaal des Kunstverei­ns Ulm ist das Stück „Revoluzzer­kind“von Wolfgang Schukraft zu sehen.

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