Putins Rache
Wenn es militärisch in der Ukraine nicht gut für ihn läuft, lässt der russische Präsident verstärkt zivile Ziele angreifen. Seine Raketen zerstören, töten und verbreiten Angst. Dennoch sind die Menschen in Mykolajiw weit davon entfernt, aufzugeben.
Mykolajiw Der Raketeneinschlag kam in den frühen Morgenstunden. Als alle im Haus schliefen. Ein gewaltiger Schlag, ein Feuerball. Die Explosion brachte den Mittelteil des Gebäudes zum Einsturz. Fünf Stockwerke klappten einfach zusammen wie ein Kartenhaus. Die Zimmerwände stürzten ein, tonnenschwerer Schutt begrub die Menschen unter sich. Nun klafft eine Lücke in dem Wohnblock aus Sowjetzeiten. Ein Bogen spannt sich noch über den Trümmerberg, auf dem jetzt ein Feuerwehrmann steht. Er dirigiert eine Baggerschaufel, die sich langsam durch den Schutt gräbt. Ein Kran hebt eine schwere Betonplatte in die Luft. Etwas abseits davon, hinter einer Absperrung, blickt ein Uniformierter mit versteinertem Gesicht
Ukrainischen Ermittlern zufolge wurden mehr als 8300 Zivilisten getötet
auf das Geschehen. Unter den Trümmern wird der Leichnam seines Schwagers vermutet. Im Gras, neben verstreuten Ziegeln, liegt eine tote Katze. Auch ihr Besitzer zählt zu den sieben Toten dieses russischen Angriffs.
Raketeneinschläge gehören zum Kriegsalltag in der Ukraine. Auch in Mykolajiw, das bis vor kurzem noch nahe der Front bei Cherson lag. Der Angriff kam, als die russischen Truppen von dort abzogen. Wie so oft reagiert Putins Armee auf Misserfolge auf dem Schlachtfeld mit Terror gegenüber der Zivilbevölkerung, mit der Zerstörung von zivilen Zielen. Das sind Wohnhäuser oder die Infrastruktur zur Versorgung der Menschen mit Energie und sauberem Wasser.
Ukrainischen Ermittlern zufolge sind bereits mehr als 8300 Zivilisten getötet worden. Unter ihnen seien 437 Kinder, teilte Generalstaatsanwalt Andrij Kostin nach Angaben des Internetportals Unian am Sonntag mit. Nachrichtenagenturen in aller Welt berichteten. Mehr als 11.000 Menschen seien demnach in dem fast seit neun Monaten andauernden Krieg verletzt worden. Die tatsächliche Zahl der Opfer dürfte, so Kostin, höher liegen, da ukrainische Behörden zu einigen von Russland besetzten Gebieten keinen Zugang hätten.
In den befreiten Gebieten rund um Cherson, Charkiw und Donezk stoßen die Ukrainer nach offizieller Darstellung auf immer mehr Beweise für Gräueltaten der einstigen russischen Besatzer. In den vergangenen zwei Monaten seien in diesen Gebieten mehr als 700 Leichen entdeckt worden, hieß es. In rund 90 Prozent der Fälle habe es sich um Zivilpersonen gehandelt.
Die Menschen in der Ukraine haben sich auf die Gefahren eingestellt – auch auf die aus der Luft. Dank der aus dem Westen gelieferten Flugabwehrsysteme können zwar immer mehr Raketen abgefangen werden. Doch das Flugabwehr-Netz ist noch nicht dicht genug. Und so folgt auch in Mykolajiw jedem Angriff eine traurige Routine: Die Feuerwehr rückt an. Das Rote Kreuz. Der Zivilschutz. Krankenwagen. Es werden Zelte aufgestellt. In einem gibt es Informationen und Zuspruch für die Beschossenen und deren Angehörige. Helferinnen und Helfer befragen Nachbarn und Überlebende, wer sich im zerstörten Teil des Hauses befand. Weiter entfernt sägen Handwerker Pressspanplatten für die gesprungenen Fenster. Die Druckwelle hat selbst in den Nachbargebäuden die Fenster bersten lassen. In denen wird es nun dunkel sein, wenn die Platten davor genagelt sind. Aber es gibt keine Alternative für das Provisorium. Man blickt hier in viele müde Gesichter.
Jene alten Menschen, die in wenigen Kilometern Entfernung in einem anderen Wohnblock lebten, haben Mitte Oktober ganz Ähnliches erlebt. Tatjana ist mit ihren 61 Jahren die jüngste unter ihnen; für den Journalisten aus Deutschland sind sie extra zur Ruine zurückgekehrt. Das war ihr Zuhause. Nun sind sie bei Angehörigen oder andernorts untergekommen. Tatjana lebte am längsten in dem Haus, seit dem Tag, als es fertiggestellt wurde. „Das war im August 1971. Es war ein ganz heißer Tag. Ich war so glücklich, dass wir in dieses schöne und neue Haus ziehen konnten“, erinnert sie sich. „Das war zu Sowjetzeiten schon ein sehr, sehr schönes und modernes Haus“, pflichtet ihr Mykola bei. Mit seinen 74 Jahren arbeitet er immer noch in einem Betrieb. „Da brauchen sie gerade jetzt meine Erfahrung, und ich darf darüber auch nicht mehr erzählen“, sagt er nicht ohne Stolz. Dann ist da die 77-jährige Alla, die über die Nachbarn berichtet, die bei dem Angriff ums Leben kamen. „Zehn Menschen, darunter ein Junge“, sagt sie leise. Sie schaut zu Boden.
Und da ist Juliana, die fordert: „Die Russen wollen unser Leben zerstören, uns mürbe machen. Was haben wir ihnen getan? Nichts. Sie sollen unser Land in Ruhe lassen!“Die 71-Jährige arbeitete als Ingenieurin für Schiffsbau. Zu Sowjetzeiten hat sie ein Forschungsschiff mit entwickelt. „Es war auf vielen Meeren unterwegs. Hier in Mykolajiw sind gute Schiffsbauer zu finden. Die Ukraine hat viele kluge Köpfe zu bieten“, erzählt sie. „Wir waren schon eine sehr gute Hausgemeinschaft. Nein, wir sind es noch“, ergänzt die Frau. Alle nicken.
Sie erzählt weiter, erzählt von der großen Cremetorte, die es für die 86-jährige Elena im Mai zum Geburtstag gab. „Da standen die Tische, und wir saßen alle darum herum. Gemeinsam haben wir gefeiert. Es war so schön. Den Krieg, den haben wir einfach kurz vergessen.“Die Außenmauern ihres Hauses stehen zum Großteil noch, doch dahinter sieht man in den Fensterhöhlen die herabgestürzten Zimmerdecken. Das Treppenhaus ist stückweise in sich zusammengebrochen. Ein Dach gibt es nicht mehr. „Das war eine russische Luftabwehrrakete, die hier eingeschlagen ist“, erklärt Mykola und zieht ein Stück Aluminium aus dem Schutt: „Hier sehen Sie, das ist ein Teil der Rakete.“Die Gedankenreise in bessere Tage, zu
Elenas Geburtstag, endet damit abrupt. Elena, die 86-Jährige, hat den Zweiten Weltkrieg überlebt, den Stalinismus und die Hungerjahre. „Jetzt, im hohen Alter, wieder ein Krieg“, sagt sie kopfschüttelnd. Sie ist die Einzige, die im Haus bleiben konnte. „Kommen Sie, kommen Sie“, sagt sie und führt zu ihrer Wohnung im ersten Stock. „Entschuldigen Sie, mein Mann schläft. Es geht ihm nicht so gut“, flüstert
„Uns bekommt niemand klein“, sagt die 86-jährige Frau
sie dann. Der 81-Jährige wacht schnell aus seinem Nachmittagsschlaf auf. „Ich habe einen Glassplitter ins Bein bekommen, als das Fenster zerbarst“, sagt er und deutet auf die Sperrholzplatten, die in die Fensterrahmen genagelt sind. „Weil ich Diabetes habe, will es nicht so recht verheilen.“Ächzend richtet er sich auf.
Täglich muss er mit seiner Frau zu einer Wasserausgabestelle, um Trinkwasser zu holen. Aus der Leitung in der Wohnung kommt seit April nur Flusswasser. „Eine stinkende Brühe“, seufzt er. „Aber das wird sich bald ändern. Jetzt, wo Cherson erobert ist und die Front weit genug weg, können die Leitungen vor Mykolajiw wieder alle repariert werden und die Quellen gutes Wasser liefern. Wenn die Russen nicht wieder alles kaputt bombardieren.“Auch Gas solle bald kommen, sagt er. Momentan heizten sie mit Strom. Doch der kann ausfallen. Und davor haben viele Angst – vor weiteren Treffern, die die Infrastruktur der Energieversorgung zerstören. In der gesamten Ukraine leiden die Menschen darunter. Nicht selten gibt es flächendeckend allenfalls stundenweise Strom und Wasser. „Furchtbar ist das. Aber unsere Elektriker arbeiten tapfer. Uns bekommt niemand klein“, sagt seine Frau, Elena.
Ihre früheren Nachbarn sehen das genauso. Trotz der Furcht, dass sie noch einmal einen Raketeneinschlag erleben müssen. Dass wieder die Feuerwehr anrückt. Und Angehörige und Nachbarn mit versteinerten Mienen neben einer Ruine stehen müssen. „Uns bekommt niemand klein“, sagt sie.