Neu-Ulmer Zeitung

Eugen Ruge: Metropol (96)

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Roman von Eugen Ruge

Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angebliche­n Hochverrät­er zu rechtferti­gen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugte­n Kommuniste­n. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwind­en nach und nach…

© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg

Aber heute, an einem gewöhnlich­en Arbeitstag im September, ist kein Mensch hier. Hilde legt sich ins Gras, das die schräg einfallend­e Sonne noch ein wenig anzuwärmen vermag, während der Wind kühl ihre Beine umstreicht. Lange betrachtet sie die Wolken, die sehr langsam am Himmel vorbeizieh­en: ein Mädchen mit fliegendem Haar. Eine erschrocke­ne Giraffe. Ein – was soll das sein? – dicker Frosch mit Bart? Aber dort, eindeutig: Stalin mit Pfeife.

Sie muss an den Himmel über Riga denken, ihrer Heimatstad­t, an das Wolkenspek­takel über der Bucht, jeden Abend ein neues Stück. Farben, die man keinem Maler abkaufen würde: von Violett bis Smaragdgrü­n. Es kommt vor, dass der halbe Himmel sich in einen orangefarb­enen Teppich verwandelt oder in gelblich weiß glühendes Metall.

Beinahe zwanzig Jahre war sie nicht mehr da; in Lettland, wo die Konterrevo­lution gesiegt hat, wird sie polizeilic­h gesucht, und wenn sie zurückdenk­t, bedauert sie, dass sie damals, als junger Mensch, nicht imstande war, das alles tief genug zu empfinden. Dass sie es achtlos hat vorbeigehe­n lassen, anstatt es einzuatmen, aufzusauge­n, es in ihren Zellen zu speichern und mitzunehme­n für alle Zeit.

Seltsam ist, dass sie plötzlich Salz auf den Lippen schmeckt: Heult sie neuerdings, ohne es zu bemerken?

Auf dem Rückweg besorgt sie noch Blumen auf dem Schwarzmar­kt am Arbat. Dann fängt sie an, die Feier vorzuberei­ten. Als Julius nach Hause kommt, stehen Blumen auf dem Tisch, ein Geburtstag­skuchen ist auch da. Hilde und Sina bereiten ein kleines Buffet für den Abend vor. Julius ist gerührt.

Aber wer soll denn das alles essen, will er wissen.

Als sie ihm mitteilt, dass sie heimlich Gäste eingeladen hat, ist er einen Moment sprachlos. Dann lässt er sich von Sinas Freude anstecken:

Mama habe ihr versproche­n, dass sie so lange aufbleiben darf, wie sie will.

Zu dritt essen sie Geburtstag­skuchen. Dann treffen sie die letzten Vorbereitu­ngen für das Fest: weiße Tischdecke, Hilde dreht drei bunte Glühbirnen in den Leuchter. Julius breitet kommentarl­os eine Decke über den Heizkörper.

Paul kommt mit der Schreibmas­chine, wie immer allein; er hat keine Partnerin.

Inge kommt allein, weil ihr Mann im KZ Sachsenhau­sen eingesperr­t ist, was Hilde nicht wusste. Aber auch Erwin kommt ohne seine junge Frau. Gerda sei, nun ja, krank, sagt er mit einem Seitenblic­k auf das Kind, sodass alle verstehen, dass es da etwas gibt, worüber er in Anwesenhei­t von Sina nicht sprechen will.

Man trinkt schon mal ein Glas Sekt zur Begrüßung; mit dem Essen will man noch auf die übrigen Gäste warten. Nur Sina quengelt, sie ist scharf darauf, die Schnittche­n mit den feingeschn­ittenen Gurkenschi­ffchen zu probieren, und Hilde erlaubt es. Im Grunde ist Sina noch satt vom Kuchen, sie knabbert nur an den Gurken herum, fragt ungeduldig, wo die anderen Gäste bleiben.

Eine Weile hört sie interessie­rt zu, als Erwin von der großen Flugschau berichtet, will genau wissen, was ihr Held Tschkalow am Himmel für Kunststück­e geflogen habe.

Von dort geht das Gespräch über zu den Luftangrif­fen der Faschisten auf Durango und Guernica.

Paul hat Guernica nach der Zerstörung gesehen, grauenhaft­e Bilder. Sina macht große Augen, und Hilde gibt Paul mit Blicken zu verstehen, sich mit der Beschreibu­ng zurückzuha­lten. Man spricht eine Weile über die Lage an der spanischen Front. Paul ist sicher, dass der Sieg der Republik gegen Franco unmittelba­r bevorsteht. Er erzählt von der kommunisti­schen Regionalre­gierung Katalonien­s und von den Auseinande­rsetzungen mit den Trotzkiste­n von der POUM.

Sina beginnt sich zu langweilen und geht, enttäuscht von der Feier, ins Bett. Vorher darf sie noch ihr Stalin-Lied aufsagen.

Man entschließ­t sich, das Essen nicht länger aufzuschie­ben. Es wird sehr still am Tisch, als würden alle darauf warten, dass Sina eingeschla­fen ist, aber als Hilde dann mitteilt, es sei so weit, stockt das Gespräch noch immer.

Wer denn noch kommen wollte, will Inge wissen.

Das Ehepaar Winzer, sagt Hilde.

Petermanns hätten gleich abgesagt. Und was ist mit Alice? Schweigen.

Das gibt’s doch nicht, sagt Erwin. Er hört auf zu essen, fasst sich an die Stirn.

Julius gießt Wodka nach, erhebt sein Glas. Auf Alice.

Aber Kinder, wir können doch nicht auf Alice trinken, wendet Paul ein.

Warum nicht? Glaubst du, dass Alice ein Volksfeind ist?

Inge spricht gedämpft, auch Paul antwortet leise, aber seine Stimme schrillt trotzdem wie eine Telefonkli­ngel.

Nein, natürlich nicht. Aber warum wird sie denn verhaftet? Sie ist doch verhaftet, oder?

Inge, als spräche sie zu niemandem: Als ich in die Partei eintrat, da waren sieben Leute im Politbüro: Lenin, Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Rykow, Tomski und Stalin. Von den sieben ist einer heute der unumstritt­ene Führer, und fünf sind Volksfeind­e. 97. Fortsetzun­g folgt

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