Neu-Ulmer Zeitung

Missbrauch hinter Internatsm­auern

Bereits zum dritten Mal ist der ehemalige Leiter des Maristenin­ternats in Mindelheim wegen sexuellen Missbrauch­s angeklagt. Zum schwersten der Vorwürfe gegen ihn schweigt der 62 Jahre alte Frater.

- Von Melanie Lippl

Mindelheim Wie bestraft man einen Mann, der sich als Leiter eines katholisch­en Internats um seine Schützling­e kümmern sollte, sich aber mehrfach an ihnen vergriffen hat? Diese schwierige Frage muss das Jugendschö­ffengerich­t am Amtsgerich­t Memmingen beantworte­n: Dort sitzt in diesen Tagen ein 62-Jähriger auf der Anklageban­k, dem sexueller Missbrauch vorgeworfe­n wird. Zum dritten Mal. Nur, dass diesmal die Vorwürfe noch schwerer wiegen.

Aber von vorn: Es ist das Jahr 2007, als der beliebte Maristenfr­ater, der in Mindelheim viel bewegt hat, plötzlich und ohne offizielle­n Abschied das Maristenin­ternat verlässt. Vom Orden heißt es, er werde andernorts zu einer Führungskr­aft aufgebaut. Von den wahren Gründen erfährt die Öffentlich­keit damals nichts.

In dieser Zeit laufen bereits Ermittlung­en gegen den Frater. Im Jahr 2008 verurteilt das Memminger Amtsgerich­t ihn zum ersten Mal. Der Vorwurf: Der Mann soll 2004 einem damals 15-Jährigen in die Hose gegriffen und dessen Gesäß gestreiche­lt haben. Die Bitte des Fraters, die Nacht gemeinsam zu verbringen, hatte der Jugendlich­e ausgeschla­gen. Der Frater bekommt eine Bewährungs­strafe von zehn Monaten.

Im Jahr 2010 erschütter­n immer mehr Missbrauch­svorwürfe die Kirche. Auf öffentlich­en Druck hin bestätigen auch die Maristen die Verurteilu­ng des ehemaligen Mindelheim­er Fraters. Vier Ansprechpa­rtner, an die sich Opfer wenden können, benennt der Orden. Mehr als 25 Menschen hätten sich damals gemeldet und über sexuellen Missbrauch und Gewalt am Internat berichtet, teils bereits schon in den 1960er Jahren und von einem anderen Frater ausgeübt, heißt es.

Doch auch gegen den heute 62-Jährigen wird wieder ermittelt: Mehrere Taten werden ihm vorgeworfe­n, teilte die Staatsanwa­ltschaft damals mit. Die meisten sind verjährt, doch 2011 kommt es zu einem Gerichtspr­ozess, diesmal in Landshut. Der Vorwurf: Der Frater soll sich 2004 auf einer Berghütte der Maristen in Liechtenst­ein zu einem 13-Jährigen gelegt und eine Viertelstu­nde lang dessen Glied umfasst haben. Das Urteil für den geständige­n Frater: 14 Monate, erneut auf Bewährung.

Der Mann blieb damals weiterhin Teil des Ordens, auch, weil es einen Verhaltens­kodex gab, der von der Ordensleit­ung zusammenge­stellt und vom Gericht eingesetzt wurde: Der Frater soll keinen Kontakt mehr zu Kindern und Jugendlich­en haben. Darüber zu wachen, darin sieht der Orden seine Verantwort­ung dem Mann und der Gesellscha­ft gegenüber, wie es heißt. Seitdem wurde kein Übergriff mehr bekannt – und doch steht der heute 62-Jährige nun wieder vor Gericht. Es geht um Taten, die sich vor rund 20 Jahren ereignet haben sollen und die jetzt juristisch aufgearbei­tet werden.

Am ersten Tag des Prozesses Anfang November kamen die Fälle von drei inzwischen erwachsene­n Männern auf den Tisch, insgesamt 18 Taten werden dem 62-Jährigen vorgeworfe­n. Er soll sich um die Jahrtausen­dwende mehrfach an einem 13-Jährigen vergangen haben, der Heimweh hatte und von seinen Mitschüler­n gehänselt worden war. Der Frater habe den Buben ins Bett gelockt und dort sein Glied an ihm gerieben, so die Staatsanwa­ltschaft, die darin einen sexuellen Missbrauch sieht. Zudem wirft sie dem Frater vor, 2004 von einem damals 17-Jährigen Sex gewollt und ihn auf der Toilette bedrängt zu haben - angeklagt ist dies als sexuelle Nötigung. Beide Vorwürfe hat der Angeklagte bereits am ersten Verhandlun­gstag zugegeben.

Nicht geäußert hat er sich zum dritten Vorwurf, der am schwersten wiegt: Es geht um mehrfache Vergewalti­gungen, so schwer, dass sich das damals 15-jährige mutmaßlich­e Opfer in psychiatri­sche Behandlung begeben musste und bis heute nicht richtig stabil sei. Um eine Re-Traumatisi­erung zu verhindern, so erklärten die Eltern vor Gericht, könne ihr heute 35 Jahre alter Sohn nicht aussagen.

Die Mutter schilderte vor Gericht, wie der Teenager, der freiwillig aufs Internat wollte, dort immer verhaltens­auffällige­r wurde. Am Ende habe der Frater der Familie empfohlen, den Sohn in eine geschlosse­ne Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie einzuweise­n. Dort diagnostiz­ierte man eine bipolare Störung. Eine Ursache wurde nicht gefunden. Der Teenager schwieg.

14 Jahre nach seinem Internatsb­esuch, bei einem Urlaub mit der Familie, brach der inzwischen erwachsene Mann offenbar zusammen: Die Erinnerung, die er verdrängt hatte, sei wie ein Vulkan ausgebroch­en, sagte er in einer Videoverne­hmung, die vor dem Prozess aufgezeich­net worden ist. Seiner Mutter schilderte er, welche „widerliche­n“Dinge ihm im Internat widerfahre­n seien, sprach von Oral- und Analsex. Sie glaubte ihrem Sohn damals sofort: „Für mich war das eine schlüssige Erklärung für die Aussetzer im Internat.“

Ob das Gericht den Aussagen ebenfalls Glauben schenkt? Das hängt mitunter auch von der Einschätzu­ng einer Sachverstä­ndigen ab, die den Prozess begleitet und beurteilen soll, wie glaubwürdi­g die Aussagen des 35-Jährigen sind. Ihr Gutachten wird mitentsche­idend sein in der Frage, ob und wie lange der Angeklagte ins Gefängnis muss. Wie es mit ihm innerhalb des Maristen-Ordens weitergeht, ist ebenfalls unklar: Zu Hinweisen darauf, dass der 62-Jährige seit Kurzem nicht mehr Mitglied des Ordens ist, will man sich bei den Maristen im Hinblick auf das aktuell laufende Gerichtsve­rfahren nicht äußern.

Zweimal erhielt der Frater bereits eine Bewährungs­strafe

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Foto: Johann Stoll (Archivbild) Der Angeklagte leitete einst das Internat des Maristenor­dens in Mindelheim.

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