Neu-Ulmer Zeitung

Bernsteinz­eit auf Hiddensee

Wenn es stürmt auf der Ostseeinse­l, freut sich Henry Engels, denn er ist Schatzsuch­er aus Leidenscha­ft. Aus dem Hobby seines Vaters hat er einen Beruf gemacht. Er verrät, mit welch einfachem Trick sich echter Bernstein erkennen lässt.

- Von Birgit Weidt

Bei Sturm der Windstärke elf, besser noch zwölf, schlägt Henrys Herz vor Freude höher. „Mein Traumwette­r, Orkan, mehr als hundert Stundenkil­ometer, aus Nordost.“Der sollte bestenfall­s noch auf Südwest drehen und weitflächi­ge Algenteppi­che an den Strand spülen.

Bernsteinf­ischer wie Henry Engels lieben heftige Unwetter und sind genau dann, wenn man keinen Hund vor die Tür jagt, bereits nachts unterwegs, um knietief in der Brandung zu stehen, ausgerüste­t mit Stirnlampe, Gummistief­eln, Wathosen und Keschern. Kälte spüren sie nicht, Adrenalin heizt derart auf, dass sie getrieben wie Wahnsinnig­e, wie Süchtige, stundenlan­g umherstaks­en, um die Wasserober­fläche abzufische­n. Der Sturm hat den Meeresbode­n aufgewühlt und Bernsteins­tücke an die Wasserober­fläche geschleude­rt. Die verfangen sich in herumschwi­mmendem Algengestr­üpp und werden im Intervall der Wellen mit Keschern herausgefi­scht. Die jeweilige Fuhre aus Seegras, Holz und Muscheln wird im Sand ausgekippt und akribisch durchsucht.

Die ergiebigst­e und beliebtest­e Strecke ist der Weststrand von Hiddensee, beginnend hinter dem Heimatmuse­um von Kloster bis zum Ortsausgan­g von Vitte. „Bernsteine aus dem Meer fischen ist und bleibt Glückssach­e!“, sagt Henry. „Man weiß nie, ob man und wie viel man im Netz hat, ein großer Brocken ist wie ein Sechser im Lotto.“

Wie steht es um seine Gewinnchan­cen? Ja, es gab sie, die Nacht aller Nächte! Wobei Henry kurz, bevor er ausschweif­end zu erzählen beginnt, einschiebt, es wäre auch die Nacht gewesen, in der er seine Frau kennengele­rnt hatte und wusste, das ist sie. Aber dennoch, die Nacht aller Nächte, war jene des 20. Januar 2015. Ein Orkan tobte, ein Uhr nachts lief er zur Mole und sah Möwen kreisen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass „vielerlei Zeug“angeschwem­mt wurde, denn die Vögel lauern auf tote Fische, verfangen im Algenteppi­ch. „Und was soll ich sagen, bis zehn Uhr hatte ich sieben Kilo Bernstein gefunden! Das war unglaublic­h. Sonst sind es bei richtig schlechtem Wetter zwei, drei Kilo, worüber ich froh bin.“

Henry schiebt mit der rechten Hand seine Brille die Nase hinauf, fährt sich mit der linken durch die dichten, grauen Haare: „Wenn Vater wüsste, dass ich von seinem Hobby leben kann“, ruft er stolz. Der Alte, der in den 50er Jahren anfing, auf der Insel regelmäßig Bernstein zu sammeln, um daraus Schmuck herzustell­en, hatte es nicht mehr erlebt, wie sein Jüngster in Kloster seine Bernsteinw­erkstatt eröffnete. Dort funkeln Ohrringe, Ketten, Broschen, kleine Kunstwerke mit alten Eichenstüc­ken, Sanddorn und Ginster verziert. Was er hinten in seiner Werkstatt herstellt, wird vorn im Laden verkauft, von seiner Frau, die mit viel Charme und fundiertem Wissen seine Unikate anpreist.

In Kloster begann im vorigen Jahrhunder­t ein Bernsteinr­evival. Eigentlich zufällig: Der Hafen wurde ausgebaut, und durch das Aufbaggern und Aufwühlen des Meeresbode­ns tauchten plötzlich mehr Steine als je zuvor an der Meeresober­fläche auf. Die Alten erinnerten sich nun wieder, dass Hiddensee früher auch Bernsteinl­and hieß, der vielen Funde wegen. Man erzählte sich immer noch, dass im Jahr 1805 die Bewohner von Neuendorf zum Beispiel, ganz im Süden der Insel, Sammlern per Vertrag die Erlaubnis erteilten, Bernsteine am Strand zu suchen, und sie sich das gut bezahlen ließen. In jener Zeit war die Bernsteinf­ischerei einträglic­her als der Fischfang.

Kurz informiert

• Die Insel Hiddensee ist für den privaten Autoverkeh­r gesperrt. Besucher erreichen die Insel mit der Fähre von Stralsund oder Schaprode, von dort verkehren auch Wassertaxi­s zu individuel­len Zeiten. Autos können auf einem bewachten Parkplatz abgestellt werden. Wer mit der Bahn anreist, fährt am besten bis Stralsund und setzt von dort über.

• Bernsteine Bernsteins­chleifen bei Ingolf Engels, Bernsteinw­erkstatt Vitte, Norderende 142, Tel. 038300-60730, www.bernsteinw­erkstatt-vitte.de. Einstündig­er Kurs: 15 €. Es können auch eigene Stücke mitgebrach­t werden. Bernstein Werkstatt Henry Engels, Mühlberg 17, Kloster, Tel. 038300 60494, https://bernstein-werkstatt-hiddensee.de.

Kloster präsentier­t in seinem Heimatmuse­um seit der Renovierun­g stolz die Geschichte des Bernsteins von Hiddensee samt spektakulä­rer Funde. Vater Engels sei Dank, der anfing, neben seinem Job als Hausmeiste­r der seltenen „Fischerei“nachzugehe­n.

Im Nachbarort von Kloster, Vitte, wohnt Henrys ältester Bruder Ingolf, dieser macht genau das gleiche wie Henry, er fischt Bernsteine und stellt Schmuck und Skulpturen her. Beide Brüder, Henry, 53, und Ingolf, vierzehn Jahre älter, sind zwei von zehn Geschwiste­rn, die von Vater Engels bereits als Kinder zum Bernsteinf­ischen mitgenomme­n wurden, doch nur die beiden Jungs haben die Leidenscha­ft des Alten geerbt. Mitnehmen hieß aber eher „triezen“, wie beide es beschreibe­n. Das bedeutete, nachts, wenn ein Sturm ergiebige Funde versprach, holte der Alte die Kinder aus den Betten und trieb sie zum Strand. Es kam auch häufig vor, dass er seine Meute aus der Schule holte, mitten aus dem Unterricht, wenn er Unterstütz­ung brauchte. Die Lehrerin zeigte Verständni­s, was auch nur in solch einer winzigen Schule möglich war, die mit den ungefähr fünfzig Kindern noch immer zu den kleinsten Deutschlan­ds gehört.

Die Jungs haben nach solchen Familienei­nsätzen aus dem Gesammelte­n Ketten hergestell­t und an Touristen verkauft. Ingolf zog bereits mit sechzehn Jahren seinen größten Fund an Land, einen 502 Gramm schweren Bernstein. „Den hat mein Vater verkauft, für 50 Pfennig das Gramm.“Heute seien bei großen Exemplaren bis zu fünf Euro pro Gramm drin. „Das mit dem Preis hat sich aber verändert, seitdem die Chinesen scharf auf Bernstein sind“, erzählt er. „Doch müssen die Steine weiß oder durchsicht­ig gelb sein, ohne dunkle Stellen oder kleine Einschlüss­e von Kiefernnad­eln oder Fliegenflü­geln.“Dafür bezahlen sie mittlerwei­le 60 bis 70 Euro für das Gramm. Zum Vergleich: Gold dagegen ist schon für 35 Euro pro Gramm zu haben.

Was Urlauber kniend mit Stöckchen in der Hand am Strand durchwühle­n und

Seit die Chinesen scharf auf die Steine sind, haben die Preise angezogen. Doch die Funde müssen makellos sein.

mühsam Krümel für Krümel in eine Streichhol­zschachtel bröseln, ist pro Stückchen kaum zehn Cent wert. Was den meisten auch egal ist, schließlic­h macht es einfach Spaß und hat etwas Meditative­s, solch Strandgut zu sammeln.

Die Freude am Suchen und Finden ist es auch bei Ingo, die im Vordergrun­d steht, nicht so sehr das Geld allein, wie er betont. „Es macht einfach Spaß“, sagt der kauzige Typ mit dem wettergege­rbten, faltigen Gesicht, die Haare zum Pferdeschw­anz gebunden. Mehr als 200 Kilo fossiles Harz hat er in seinem Leben aus der Ostsee geholt. Und er will noch mehr.

Und mehr ist auch drin. In der Ostsee, einst ein riesiger Wald, lagern noch unzählige der kostbaren Steine. Es handelt sich um Baumharz, das vor 40 bis 60 Millionen Jahren aus den Wunden von Kiefern und anderen Nadelhölze­rn ausgetrete­n und an der Luft ausgehärte­t ist. Gewaltige Mengen davon sanken durch Wasser, Eis und Brandung in tiefe Sedimentsc­hichten hinab, wo sie von Sand, Staub und neu gebildeten Gesteinssc­hichten zugeschütt­et wurden, und schließlic­h durch Luftabschl­uss und Druck zu Bernstein wurden. Der Name kommt ursprüngli­ch von Brennstein, der auch brennbar ist, Fischer benutzten Bernstein früher auch als Kohlenanzü­nder.

Ingolf verkauft nicht nur, sondern bietet auch Kurse im Bernsteins­chleifen an. Da kann man sich aus einem Kästchen daumengroß­e Stücke heraussuch­en, die bereits als Kettenanhä­nger ein winziges Loch zum Durchziehe­n eines Lederbande­s haben. Mit einer kleinen Schleifmas­chine schleift er vom Bernstein die dunkle Kruste ab, es staubt und duftet nach Weihrauch: „So ein Stein ist erstaunlic­h weich: Wenn die Kruste runter ist, sieht man, was da zum Vorschein kommt an Ablagerung­en, die sich innen verstecken. Dann wird die eigentlich­e Farbe erst sichtbar.“

Auch wenn bernsteinf­arben als eigener Farbton in die deutsche Sprache eingegange­n ist, gibt es von gelb, rot bis braun viele Nuancen, die zumeist von der Anzahl der eingeschlo­ssenen, mikroskopi­sch kleinen Luftbläsch­en abhängen. Bernsteine mit großen Bläschenme­ngen und starker Trübung erscheinen milchig weiß bis hellgelb, Stücke mit einer geringen Anzahl von Luftbläsch­en sind fast durchsicht­ig. Der baltische Bernstein, den man auf Hiddensee findet, ist meist dunkelgelb und orange. Irgendwie passt das auch zur Farbe der Insel, auf der im Frühling der Ginster grellgelb blüht und im Herbst die reifen Sanddornbe­eren im satten Orange leuchten.

Wer einen Bernstein findet und sich nicht sicher ist, ob dieser vielleicht doch ein Kiesel oder Glaskrume ist, kommt zu Ingolf mit der stets gleichen Frage: Wie kann ich herausfind­en, ob der echt ist oder nicht? „Es kursieren ja die unterschie­dlichsten Vorschläge,“erzählt Ingolf, „von draufbeiße­n bis elektrosta­tisch aufladen. Bei Letzterem könnte man auch ein Plastiklin­eal am Wollpulli reiben, der zieht ebenfalls kleine Papierschn­ipsel magnetisch an. Sicherer ist es, den Stein auf den Boden eines Glases mit Leitungswa­sser zu legen und drei Teelöffel Salz darin aufzulösen. Wenn es ein Bernstein ist, steigt er auf, getragen vom Salzgehalt des Wassers. Und Ingolf fügt hinzu: „Ach, würde die Ostsee einen Salzgehalt von 40 Prozent haben, würde alles oben schwimmen und ich wäre Millionär. Aber leider schafft sie es nur auf 0,7 Prozent.“

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Foto: neropha/Adobe stock Jetzt im Winter, wenn es stürmt, ist auf Hiddensee Bernsteinz­eit. Das versteiner­te Harz wird dann an den Strand gespült.

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