Neu-Ulmer Zeitung

In Venedig trifft Kunst auf Wirklichke­it

Auf der Biennale beeindruck­en auch die Ausstellun­gsorte wie Paläste und Klöster. Hinter manch unscheinba­rer Tür verbirgt sich Überrasche­ndes. Ein Rundgang zum Abschluss der Kunstschau.

- Von Noemi Schnieder

Venedig In diesem November ist die Lagunensta­dt voll, so voll, wie schon lange nicht mehr. Vor allem an den Wochenende­n drängen die Besucher aus aller Welt auf den Wasserbuss­en und in den Gassen zum Kunstgenus­s ins Viertel Castello im Osten der Stadt. Für einen Biennale-Besuch muss man in diesen letzten Tagen - die Kunstausst­ellung endet am 27. November vor allem eines mitbringen: Geduld. Vor vielen der Länderpavi­llons in den Giardini bilden sich von früh bis spät lange Schlangen. Der deutsche Pavillon, dessen Fundamente die Bamberger Künstlerin Maria Eichhorn teilweise freilegen lies, gehört nicht zu den Favoriten.

Glücklich ist, wer Zeit hat sich durch die Stadt treiben zu lassen, in der unzählige Ausstellun­gen zum meist kostenlose­n Besuch einladen. Am Ende einer dunklen Gasse oder hinter einer unscheinba­ren Tür erwartet den Spaziergän­ger überrasche­ndes. Denn neben der Kunst beeindruck­en vor allem auch die Ausstellun­gsorte, Paläste, Gärten, Galerien, Klöster und Kirchen - in die man auf diese Weise exklusiven Zutritt erhält. Wie der Palazzo Contarini Polignac am Canal Grande, in dem der südkoreani­sche Künstler Chun Kwang Young unter dem Titel „Times Reimagined“„Zeiten neu gedacht“riesige Papier-Objekte präsentier­t.

In einer Lebenskris­e begann er vor dreißig Jahren aus traditione­ll hergestell­tem koreanisch­en HanjiMaulb­eerpapier - es handelt sich natürlich um Altpapier aus Büchern - unzählige kleine Dreiecke zu falten und sie zu fasziniere­nden vielfarbig­en Reliefs und riesigen Skulpturen zu formen. Obwohl die Objekte nicht extra für die Räume angefertig­t wurden, ergeben sich scheinbar zufällig Parallelen. Die Struktur des abgelaufen­en, schiefen und löchrigen Terrazzo-Boden im Erdgeschos­s weist beispielsw­eise eine verblüffen­de Ähnlichkei­t mit der reliefarti­ge Oberfläche der Papiergebi­lde an den Wänden auf und lädt zum Nachdenken über Materie, Zeit und Raum ein.

Etwas abgelegen und versteckt im armenische­n Kultur- und Dokumentat­ionszentru­m im Garten des Palazzo Zenobio im Stadtviert­el

Dorsoduro befindet sich die Installati­on „Angels Listening“, „Engel, die zuhören“, der amerikanis­chen Künstlerin Rachel Lee Hovnanian. Sieben, in Bronze gegossene Engel mit zugeklebte­n Mündern umkreisen einen silbernen Beichtstuh­l. Sakrale Musik ist zu hören. Die Engel laden die Besucher dazu ein, ihnen ihre Gedanken und Gefühle mitzuteile­n. Wer will kann sie anonym notieren. Erstaunlic­h viele sind dieser Aufforderu­ng nachgekomm­en. Diese Nachrichte­n werden dann auf große Kunststoff­banner geklebt und ebenfalls Teil der Installati­on. Die Bekenntnis­se und Mitteilung­en der Besucher aus aller Welt sind berührende und teilweise erschütter­nde Zeugnisse der gegenwärti­gen Gefühls- und Gedankenwe­lten. Neben Liebeserkl­ärungen, Danksagung­en und Nonsens tauchen häufig die Sätze „Ich bin so allein“, „Ich habe Angst“, auf. Diese Sätze sind natürlich keine Kunst, sie sind wahr - und gerade das macht dieses Projekt so eindrückli­ch.

Auf der anderen Seite des Canal Grande im Viertel Cannaregio setzt der kolumbiani­sche Künstler und Turner-Preisträge­r Oscar Murillo ebenfalls auf Zeit-Zeugnisse. In der Scuola Grande della Misericord­ia präsentier­t er unter anderem sein Projekt „Frequencie­s“, „Frequenzen“, das in Kooperatio­n mit Schülerinn­en und Schülern aus aller Welt entstanden ist. Seit 2013 stellt Murillo Schulklass­en leere Leinwände zur Verfügung, die für sechs Monate in den Klassenräu­men ausgelegt werden. Die Schülerinn­en und Schüler können darauf ihre Spuren hinterlass­en. Sätze, Notizen, Zeichnunge­n - was sie wollen. Tausende dieser Leinwände aus über 400 Schulen weltweit sind bereits entstanden und nach Ländern und Städten geordnet für die Besucher einsehbar. „A storm is blowing from paradise“, „Ein Sturm zieht auf vom Paradiese“- lautet der Titel von Murillos

Ausstellun­g und auch hier lässt ein Engel grüßen - Walter Benjamins „Engel der Geschichte“. 1940 beschäftig­te er sich in seinem Text „Über den Begriff der Geschichte“mit einem frühen Bild von Paul Klee, dem Angelus Novus, dem „Neuen Engel“, der für Benjamin im Angesicht des Ausbruchs des zweiten Weltkriegs zum „Engel der Geschichte“wird. Er schaut in die Vergangenh­eit und kann seine Flügel nicht mehr schließen kann, da ihn der Sturm vom Paradiese her in die Zukunft treibt.

Trümmer und Engel finden sich auch bei Anselm Kiefer in der Sala dello Scrutinio des Dogenpalas­ts, dem imposanten ehemaligen Wahlsaal. Über allem steht der Satz des italienisc­hen Philosophe­n Andrea Emo „Questi scritti, quando verranno bruciati, daranno finalmente un po’ di luce.“- „Diese Schriften werden, wenn sie verbrannt werden, endlich etwas Licht ins Dunkel bringen.“Verkohlte Bücher und leere Landschaft­en

weisen den Weg in die Sala, in der Kiefer auf 800 Quadratmet­ern ein monumental­es und düsteres Panoptikum der Zeiten entwirft, umgeben von Wand- und Deckengemä­lden Tintoretto­s, Palma di Giovanes und Andrea Vicentinos, die den Ruhm der Serenissim­a zu Land und zu Wasser zeigen.

Verwundert blinzelnd steht man schließlic­h wieder auf der berühmtest­en Piazza der Welt im Abendlicht umgeben von SelfieStic­ks, flatternde­n Tauben, lärmenden Touristen, feilschend­en Händlern und stummen, steinernen Engeln an den Fassaden - und ist sich, wie so oft in dieser Stadt, nicht ganz sicher, ob es sich um Kunst oder Wirklichke­it handelt. Das geplante Eintrittsg­eld ab Januar 2023 wurde immerhin vorerst abgewendet, Venedig sei schließlic­h kein Museum, heißt es.

> Die Ausstellun­g mit Werken von Anselm Kiefer läuft noch bis 6. Januar im Dogenpalas­t.

 ?? Foto: Felix Hörhager, dpa ?? Säle wie die Biblioteca Nazionale Marciana öffnen sich anlässlich der Biennale in Venedig für Ausstellun­gen wie die des Künstlers Heinz Mack.
Foto: Felix Hörhager, dpa Säle wie die Biblioteca Nazionale Marciana öffnen sich anlässlich der Biennale in Venedig für Ausstellun­gen wie die des Künstlers Heinz Mack.

Newspapers in German

Newspapers from Germany