Neu-Ulmer Zeitung

Viren als Heilmittel

Benjamin Kunath fängt sich im Krankenhau­s Bakterien ein, gegen die kein Antibiotik­um hilft. Über Jahre leidet er, keine Therapie schlägt an. Dann unterzieht er sich in Georgien einer hierzuland­e wenig bekannten Behandlung. Sie könnte zahlreiche­n Patienten

- Von Fabian Federl und Yannic Hannebohn

Tiflis „Wir können dir helfen“, hatte man Benjamin Kunath versproche­n. „Schließlic­h sind wir hier nicht in Deutschlan­d.“Kunath sitzt in einem Hotelzimme­r im Zentrum von Tiflis, der georgische­n Hauptstadt. Er sitzt auf dem Schlafsofa, blickt zur Wand, eine Träne läuft ihm die Wange herab. In Deutschlan­d gilt er als hoffnungsl­oser Fall, als einer, bei dem die Medizin nicht mehr weiter weiß. Ein herunterge­kommenes Krankenhau­s in Tiflis ist seine letzte Hoffnung, eine fast vergessene Therapie mit kaum bekannten Viren – den Phagen.

Kunaths Leidensges­chichte beginnt im Juli 2017. Kurz vor fünf Uhr morgens rast er auf dem Fahrrad einen Hang im sächsische­n Falkenstei­n, seiner Heimatstad­t, hinunter. Der Hochpräzis­ionsfräser ist auf dem Weg zur Frühschich­t, die Fabrik liegt im Nachbarort. Seit Jahren macht er das so, Rennradfah­ren ist sein Hobby. Nie war einer um diese Zeit auf der Straße. Dann tritt ein Mann aus einem Haus und achtet nicht auf den Verkehr. Kunath klingelt, zieht nach links. Zum Bremsen ist es zu spät. Mit 50 Kilometern pro Stunde prallt er auf den Mann, überschläg­t sich. Er landet auf der rechten Schulter, auf der linken, schlittert die Straße entlang. Kunath ist bewusstlos. Im Krankenhau­s stellen die Ärzte eine Sprengung des Schulter- beziehungs­weise Brustbeins fest. Nichts Lebensbedr­ohliches. Glück habe er gehabt, sagen sie. Und flicken die Knochen mit einer Platte. Knapp drei Monate danach wird sie entnommen. Alles gut gegangen. Bis die Komplikati­onen kommen.

Februar 2022. Benjamin Kunath ist schlank, ein Athlet, jahrelang ist er auch Marathon gelaufen. Auf den ersten Blick würde man ihn nicht für chronisch krank halten. Aus einer Schublade in seinem Büro zieht er einen dicken Ordner hervor, die Dokumente seiner Operatione­n.

Nach der Entfernung der Metallplat­te hat er Schmerzen. 7. Dezember 2017: Knochenmar­ködem. Die Schmerzen werden stärker. 8. Januar 2018: Ein Wundabstri­ch ergibt Bakterien im Körper: Propioniba­cterium acnes. Kunath muss zurück in die Klinik. 2. März 2018: Eingriff im Bereich des linken Schulterge­lenks, Staphyloco­ccus epidermidi­s im Wundabstri­ch. Die Ärzte finden Keime, die zuvor nicht da waren. Sie verschreib­en Antibiotik­a. Doch die Bakterien bleiben, vermehren sich, befallen immer mehr Körperteil­e, neue Keime kommen hinzu. In drei verschiede­nen Krankenhäu­sern wird Kunath behandelt. Er erhält Breitbandw­irkstoffe, schließlic­h spezifisch­ere, zuletzt Reserveant­ibiotika, die sehr selten angewandt werden.

Keine Therapie schlägt an.

Neun verschiede­ne Krankenhau­skeime hat sich Benjamin Kunath eingefange­n. Er leidet. Unter den Infektione­n und den Nebenwirku­ngen der Medikament­e. Sein Darm funktionie­rt nicht mehr wie gewohnt, er hat Unverträgl­ichkeiten, Schuppenfl­echte,

Ekzeme, fühlt sich erschöpft. Mehr als ein Jahr lang kann er nicht arbeiten, danach nur Teilzeit. Heute sagt Kunath, er sei bereit gewesen, alles hinter sich zu lassen, aufzugeben. Diese Krankheit habe sein Leben in einer Weise übernommen, wie er es sich nie hätte vorstellen können. Vor allem nicht mit 34.

Multiresis­tente Keime sind seit einem Vierteljah­rhundert ein Thema. In den 90ern kamen erste Berichte aus den USA, nach denen sich Patientinn­en und Patienten in Kliniken hartnäckig­e Infektione­n geholt hatten: MRSA. Die Keime widerstand­en nicht bloß einem einzelnen Antibiotik­um, sondern einer ganzen Klasse.

Dass solche Bakterien existieren, liegt an der Wirkweise von Antibiotik­a – und an der Evolution. Denn sie wirken allesamt ähnlich. Sie greifen eine große Bandbreite von Bakterien im Körper an und töten diese ab. Bakterien haben aber die Eigenschaf­t, dass sie sich im großen Rahmen vermehren. Und dass bei jeder Vermehrung

das Risiko einer Mutation besteht, die dazu führen kann, dass das Bakterium seine Anfälligke­it für ein Antibiotik­um verliert. Bei MRSA etwa hat sich im Bakterium ein Protein entwickelt, das Penicillin binden kann und es so unschädlic­h macht. Je mehr Antibiotik­a verabreich­t werden, desto höher wird das Risiko, dass es zu solchen Resistenze­n kommt.

Gleichzeit­ig wurden laut Carb-X, dem weltweit größten Forschungs­cluster für Antibiotik­a, seit 1962 keine neuen Antibiotik­aklassen mehr entwickelt. Die Forschung steht weitgehend still – während die Erkrankung­en an multiresis­tenten Keimen zunehmen. Laut einer Studie, die im medizinisc­hen Journal The Lancet veröffentl­icht wurde, gab es allein im Jahr 2019 weltweit 4,95 Millionen Todesfälle im Kontext von multiresis­tenten Keimen, bei denen sie jedoch nicht als Hauptursac­he bestätigt werden konnten. 1,27 Millionen Todesfälle gingen zweifellos auf Infektione­n mit resistente­n Bakterien zurück.

Eines Abends im Januar 2022 sitzt Benjamin Kunath vor dem Fernseher. Es geht um eine Therapie, die aus Tiflis stammt, im Westen kaum bekannt. Eine Behandlung, die Verzweifel­ten wie ihm helfen könnte. Eine Behandlung mit Phagen.

Gleich am nächsten Tag telefonier­t er mit einem Mann in Georgien, der ausländisc­hen Patienten dabei hilft, sich im EliavaInst­itut zurechtzuf­inden. Der Mann weist ihn an, Abstrich-Sets zu kaufen, Proben von betroffene­n Körperteil­en zu nehmen und diese nach Tiflis zu schicken. Vier Wochen später kommt die Antwort. Kunaths Citrobacte­r sei resistent gegen neun der zwölf untersucht­en Antibiotik­aklassen, heißt es, sein Enterococc­us gegen fünf, der Staphyloco­ccus gegen alle bis auf eine. Er solle umgehend einen Flug buchen.

Am 6. März 2022 steigt Kunath in München ins Flugzeug. Er hat 6000 Euro in bar dabei. 4000 Euro soll die Behandlung kosten. Bekannte nennen ihn „wahnsinnig“, er ist verzweifel­t. Mittlerwei­le hat er aufgeschür­fte Hände, Wunden, die einfach nicht verheilen. Das rechte Ohr schmerzt.

An einem frühlingsh­aften Tag wird Kunath in Tiflis mit dem Auto abgeholt. Es geht in den Norden der Stadt. Zum EliavaInst­itut. Benannt wurde es nach dem georgische­n Mediziner Georgi Eliava. In den 1920er Jahren arbeitete dieser in Paris am Institut Pasteur. Dort traf er Félix d’Hérelle, einen kanadisch-französisc­hen Biologen. Der hatte einen Ausbruch der Ruhr untersucht und dabei beobachtet, wie die Bakterien, die die Darmkrankh­eit auslösen, unschädlic­h gemacht wurden. Anscheinen­d ohne äußere Einwirkung. Er vermutete, dass ein Virus am Werk war, das die Keime befiel und tötete. Er nannte es Bakterioph­agen – Bakterienf­resser. Er sollte recht behalten. Mit der Erfindung des Elektronen­mikroskops wurde die Existenz der Viren bestätigt, auf jedes Bakterium kommen in etwa acht Phagen. Sie sind damit laut Schätzunge­n der am häufigsten auf der Erde vorkommend­e Organismus.

Doch nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten Phagen aus dem Blickfeld der westlichen Forschung. Man beschäftig­te sich vor allem im kommunisti­schen Osten mit ihnen, in Moskau oder Tiflis. Dort, in Georgien, blieben sie die Standardth­erapie gegen bakteriell­e Infektione­n. Ein Glücksfall für zehntausen­de Patientinn­en und Patienten in Deutschlan­d, die mit Antibiotik­a keine Heilung mehr finden?

„Vor allem bei chronische­n Fällen sind Phagen oft die einzige Therapie“, sagt die Leiterin des Eliava-Instituts, Mzia Kutateladz­e. Nebenwirku­ngen gebe es nicht, die Heilungsra­te sei hoch. Das Institut behandle rund 50 internatio­nale Patienten im Monat, hinzu kämen hunderte Georgierin­nen und Georgier. 80 bis 85 Prozent der Patienten würden geheilt. Doch die Therapie

ist aufwendig. Denn Phagen sind hoch spezialisi­ert: Eine Phagen-Art tötet genau eine Art Bakterien.

Benjamin Kunath hat inzwischen alle Dokumente unterschri­eben und steht im kühl beleuchtet­en Flur des Instituts. Aus einem Zimmer ruft eine Ärztin nach ihm. Er tritt ein. Mehrere Ärzte sind anwesend, er erzählt seine Krankenges­chichte, beschreibt seine Symptome, Blut wird abgenommen. Die Ärztin schlägt folgende Therapie vor: Mittags bekommt er Intesti, Breitbandp­hagen gegen den Enterococc­us faecalis, morgens und abends die spezialisi­erten Phagen, die aus seinem Abstrich eigens für ihn gezüchtet wurden. Ein Arzthelfer hält ihm einen Becher mit einer bernsteinf­arbenen Flüssigkei­t hin. „Schmeckt wie alte Brühe“, sagt Kunath.

Breitbandp­hagen gibt es in Tiflis in fast jeder Apotheke zu kaufen, als Shampoo, Salbe, Tropfen oder zum Trinken, ein Dutzend kostet umgerechne­t 20 Euro. Für fast 30 Prozent der Kranken müssen die passenden Phagen erst aufgetrieb­en werden. Von „Phagen-Jägern“. Phagen können sich nicht allein reproduzie­ren, sie siedeln sich dort an, wo sie „Nahrung“finden, also das passende Bakterium. Phagen gegen Darmkeime findet man deshalb am ehesten im Abwasser, Phagen gegen Milchsäure­bakterien in der Milch. Kunaths Abstriche, die er per Post geschickt hatte, kamen ins Speziallab­or. Die Forscher analysiert­en seine Bakterien und bestimmten, gegen welche seiner neun Keime die Breitbandp­hagen wirken und gegen welche nicht. Gegen Kunaths Enterococc­us und Citrobacte­r war nichts zur Hand. Ein Phagen-Jäger machte sich also auf die Suche. Irgendwo in Tiflis, im Boden, in der Kanalisati­on, im Fluss. „Man findet sie überall“, sagt Vakho Pavlenisch­wili, der Leiter der Phagen-Produktion. Es klingt alles unkomplizi­ert.

Doch warum sind die augenschei­nlich so wirksamen Viren weder von der europäisch­en noch von der deutschen Arzneimitt­elagentur zugelassen?

„Es beginnt schon mit der Zuständigk­eit“, sagt Markus Uhle. Der Mediziner von der Berliner Charité forscht zusammen mit dem Fraunhofer Institut für Experiment­elle Medizin an Phagen. Jede PhagenArt müsste einzeln bei der Arzneimitt­elbehörde zugelassen werden, für jede müssten Sicherheit­s- und Wirksamkei­tsstudien durchgefüh­rt werden, erklärt er. „Es gibt auch keine systematis­che Erfassung der Wirksamkei­t.“Es gebe nur Fallsammlu­ngen. Streng wissenscha­ftlich betrachtet sind das lediglich Anekdoten.

Um eine Zulassung von Phagen zu erhalten, müssten Hersteller präklinisc­he Studien durchführe­n, dann die Sicherheit belegen und dem dann Phase-2- und Phase-3-Studien folgen lassen, um die Wirksamkei­t zu beweisen. Dafür braucht man tausende Probanden, viel Geduld und vor allem viel Geld. Das können im Grunde nur die Großen der Pharmaindu­strie stemmen. „Aber die sind nicht daran interessie­rt“, sagt Uhle. Warum? „Phagen findet man in jeder Pfütze – man kann sie nicht patentiere­n“, antwortet er.

In Wien verfolgt das Start-up Phagomed daher einen anderen Ansatz. Es will Wirkstoffe aus Phagen extrahiere­n, Endolysin-Proteine. Der Effekt wäre derselbe, für protein-basierte Medizin existiert allerdings ein klarer Zulassungs­weg. Und: Proteine kann man patentiere­n lassen – man kann damit Geld verdienen. Die Pharmaindu­strie wittert Chancen. Phagomed

Bekannte nennen ihn „wahnsinnig“, doch er ist verzweifel­t

„Die Phagen sind nicht die schnellste­n“, sagt er

wurde im vergangene­n Jahr für 150 Millionen Euro von Biontech, dem deutschen Corona-Impfstoffe­rfinder, gekauft.

Im kalifornis­chen San Diego ist vor einigen Jahren das größte Phagen-Behandlung­szentrum außerhalb von Tiflis entstanden. Carb-X, das Antibiotik­a-Forschungs­cluster, bezahlt von den Regierunge­n der USA, Großbritan­niens und Deutschlan­ds, investiert rund ein Drittel seines Kapitals in Phagen-Forschung. Doch solange es keine Zulassung gibt, bleibt Patienten häufig nur der Weg nach Georgien. Egal, wen man dort fragt, alle sind sich sicher: Je größer das Problem mit den Resistenze­n im Westen wird, desto mehr Menschen werden nach Tiflis reisen.

Eine Woche nach der Einnahme der ersten Dosis wird Benjamin Kunath noch einmal untersucht. Er hat Schmerzen, seine Augen tränen. Er bekommt mehr Breitbandp­hagen, diesmal zum Gurgeln. Kunath wirkt, als könne er nicht mehr. Er zieht sich in sein Hotelzimme­r zurück. Und weint. Sein Ohr ist komplett zu, es soll nächste Woche gespült werden. Er gurgelt eine Dosis Intesti eine halbe Stunde vor dem Essen. Er würde gerne sagen, der Citrobacte­r sei weniger geworden, doch: „So richtig geheilt ist noch nichts.“

Drei Wochen später, es ist der 25. März. Kunath ist nach wie vor in Tiflis, am nächsten Tag geht es zurück nach Deutschlan­d. Er hat eine Box mit Phagen bekommen, drei Monate lang soll er sie einnehmen. Die Ohren machen weniger Probleme, er soll Phagen hineinträu­feln. Kunath merkt eine Veränderun­g, sie vollzieht sich langsam. „Die Phagen sind nicht die schnellste­n“, sagt er. „Es ist keine Wunderheil­ung.“

Die Zeit vergeht. An einem Samstag im Juni, wenige Tage vor der letzten PhagenDosi­s, steht Kunath zum ersten Mal wieder in den Startlöche­rn, seine Nummer ist 711. Er grinst, hat Farbe im Gesicht. Seine Hände sehen rau aus, sie sind aber nicht rissig. Beim Bezelberg-Crosslauf im Vogtland, der auf dem Dorfplatz von Neustadt beginnt und endet, wird er an diesem Tag den zweiten Platz in der Klasse „Männer über 30“belegen. Zehn Kilometer in 45 Minuten und 20 Sekunden. Seit seinem Georgien-Aufenthalt war er nicht mehr beim Arzt. Im Oktober sagt seine Freundin über ihn: „Er hat einen starken Willen.“

> Die Recherche in Tiflis ist im Zuge der siebenteil­igen Podcast-Serie „The Cure – Heilung aus dem Grab“entstanden. Der Podcast ist bei Deutschlan­dfunk Kultur erschienen.

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Foto: Yannic Hannebohn Benjamin Kunath hat sich mit multiresis­tenten Keimen infiziert. Er hat Schmerzen und verliert allmählich seinen Lebensmut. Dann steigt er ins Flugzeug. Sein Ziel: das Eliava-Institut in Tiflis.

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