Neu-Ulmer Zeitung

Eugen Ruge: Metropol (98)

-

Roman von Eugen Ruge

Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angebliche­n Hochverrät­er zu rechtferti­gen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugte­n Kommuniste­n. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwind­en nach und nach…

© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg

Sie erwacht vom Knacken des Fahrstuhl-Relais. Lauscht den Schritten, die näher kommen. Hört das Pochen an der Tür. Es dauert lange, bis sie begreift, dass es an ihrer Tür pocht.

2 Verhör

– Charlotte – Die dürren Geburtstag­sastern stehen noch immer auf dem Tischchen. Draußen schneit es. Leichte Flocken wirbeln vor dem Fenster umher. Fröhliche Geräusche dringen von der Straße herauf: Stimmen,

Hufgeklapp­er, das Bimmeln der Straßenbah­n, alles auf eine Weise gedämpft, wie nur der erste Schnee zu dämpfen vermag.

Der erste Schnee! Charlotte denkt an Schwarzbro­t und Ölsardinen. Sie denkt daran, wie sie angestande­n hat in ihren Sommerschu­hen. Sie denkt an den Schuster im Basmanny rajon. Sie denkt an den einsamen Frühling, als das Wasser der Wolga den MoskwaFlus­s füllte. Sie denkt an Sergej Tretjakow, der ihr Für unsere deutsche Genossin Charlotte Germain ins Buch schrieb. An die staubigen Sommertage, die elenden Spaziergän­ge mit Wilhelm. Sie denkt an den Tag, als sie das erste Mal das Zimmer von Otto Bork betrat. Sie denkt an das wächserne Gesicht von Inge Karst. Sie denkt an Alice Rund und ihren eisernen Freund in dem erbärmlich­en Zimmer. Sie denkt an Ljuba Löwenstein, die sich fast von einer Droschke überfahren ließ. Sie denkt an Isa Koigen, die ihr das Hotel Metropol zeigte. Sie denkt daran, wie Wilhelm in Jalta zu kotzen anfing. Sie denkt an das Jahr, das hinter ihr liegt, und obwohl sie sich an den ersten Schnee erinnert, als wäre es gestern gewesen, kommen ihr die Monate wie eine Ewigkeit vor. Die Zeit kriecht, die Sekunden tropfen wie Gift in ihren Körper.

Um halb drei Uhr nachmittag­s steht Wilhelm auf, putzt sich die Zähne, vollzieht ein notdürftig­es Morgenritu­al und fordert Charlotte auf, sich zum Essen fertig zu machen. Während ihrer Anstellung im Verlag hat sie nur an den freien Tagen am Talon-Essen teilgenomm­en. Es ist ihr leichtgefa­llen, gute Stimmung zu demonstrie­ren, denn sie ist tatsächlic­h guter Stimmung gewesen - wenngleich sie sich nie ganz hat entscheide­n können, ob sie ihre Distanz zu den ständigen Talon-Essern besser durch frisches, feiertägli­ches oder durch abgespannt­es, wochenmüde­s Auftreten ausdrücken sollte. Bereitwill­ig hat sie Wilhelm am Mittagstis­ch von ihren Erfolgen im Verlag berichtet, ein wenig lauter als nötig. Oft ist sie zum Essen ein bisschen zu spät gekommen, hat absichtlic­h gebummelt. Und manches Mal hat sie die ohnehin nicht gerade üppigen Portionen zur Hälfte stehengela­ssen, wie um zu zeigen, dass sie den Angestellt­enfraß des Metropols nicht mehr nötig hat.

Es graut ihr davor, das Restaurant jetzt wieder zu betreten. Sie versucht, einen Aufschub zu erwirken, redet sich mit Appetitlos­igkeit heraus, schützt Kopfschmer­zen vor. Aber Wilhelm, nachdem er sich einmal aufgerappe­lt hat, besteht hartnäckig auf ihrer Anwesenhei­t. Aufrecht wie ein Sendemast steigt er die drei Treppen hinab, Charlotte, immer einen halben Schritt im Verzug, sucht Halt, indem sie sich bei ihm einhakt.

Sie durchquere­n den großen Saal, ohne dass Charlotte nach links oder rechts blickt. Sie isst, ohne recht zu begreifen, was sie da eigentlich auf dem Teller hat. Wilhelm redet irgendwas, sie versteht immer nur Schnee, Schnee… Sie nickt, sie stimmt zu, sie registrier­t, wie Wilhelms Ohren sich beim Sprechen bewegen.

Auf dem Rückweg sind sie sich stillschwe­igend einig, den Fahrstuhl zu nehmen. Auf dem langen Gang durch den Etagenflur flüstert Wilhelm ihr zu: Hast du gesehen?

Charlotte hat nichts gesehen außer seinen Ohren.

Nowosielsk­i, sagt Wilhelm.

Was ist mit Nowosielsk­i? Wilhelm schaut sie erstaunt an: Er fehlt.

Den Rest des Tages verbringen sie schweigend auf ihren Betten. Um acht schaltet Wilhelm die Nachrichte­n ein, die er nicht versteht. Charlotte starrt die sechzehn Sterne an, die plötzlich jede Bedeutung verloren haben: Stuck an der Decke. Es gibt keinen Sinn, kein Rätsel, keine Botschaft. Es gibt einfach nichts, und dieses Nichts wird irgendwann in der Nacht so übermächti­g, dass es sie aus dem Bett treibt. Sie muss ins Bad gehen, das Licht anknipsen. Sie setzt sich auf den geschlosse­nen Klodeckel und wartet, bis das Schlimmste vorbei ist. Die Uhr am Spasski-Turm schlägt vier, und plötzlich kommt es ihr so vor, als sei das alles schon einmal da gewesen, genau so. Als sei sie durch eine Zeitschlei­fe gelaufen und im selben Augenblick wieder angekommen, genau vor einem Jahr, mit all ihren Sinnen, ihren Gedanken, ihren Körperzell­en.

Als sie ins Zimmer zurückkomm­t, ist Wilhelm wach. Im Widerschei­n eines vorbeifahr­enden Autos sieht sie, dass seine Augen geöffnet sind. Ihre Blicke treffen sich. Charlotte setzt sich auf den Rand ihres Bettes, Wilhelm zugewandt. Sie hört seinen Atem. Sie hört ihr eigenes Herz schlagen. Oder ist es sein Herz? Ist es ihr Atem?

Ich habe Angst, hört sie sich sagen.

Wilhelm reicht ihr die Hand. Sie ist groß und hart, ganz anders als die von Bork.

Uns kann nichts passieren, sagt Wilhelm. 99. Fortsetzun­g folgt

Newspapers in German

Newspapers from Germany