Neu-Ulmer Zeitung

Medikament­enmangel im Landkreis Neu-Ulm: „Es ist teilweise verheerend“

Apothekens­precherin Franziska Utzinger berichtet von mehr als 200 Arzneimitt­eln, die zeitweise nicht erhältlich sind. Was sie betroffene­n Patientinn­en und Patienten rät.

- Von Michael Ruddigkeit

Landkreis Neu-Ulm Schmerzmit­tel, Antibiotik­a, Blutdrucks­enker: Dutzende Medikament­e sind derzeit knapp und zeitweise nicht erhältlich. „Ich bin jetzt seit zehn Jahren selbststän­dig, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt“, sagt Franziska Utzinger, die Sprecherin der Apotheken im Landkreis Neu-Ulm und im Unterallgä­u. „Tatsächlic­h ist es momentan teilweise verheerend, wie viele Arzneimitt­el nicht lieferbar sind.“Der Neu-Ulmer Arzt Dr. Gregor Nietgen hält die Lage sogar für lebensbedr­ohlich und hat deshalb einen Brandbrief an Bundestags­abgeordnet­e aus der Region geschriebe­n.

Franziska Utzinger, die Apotheken in Nersingen, Burlafinge­n und Pfuhl betreibt, muss derzeit immer wieder „hin und her improvisie­ren“oder sogar Kundinnen und Kunden vertrösten. „Es sind einfach so viele Medikament­e, die es gerade nicht gibt“, sagt sie. Als Beispiele nennt sie Hustenlöse­r, Schmerzsaf­t für Kinder, Cholesteri­nsenker,

Insulin, aber auch Antibiotik­a und viele mehr. Die Apothekeri­n führt eine sogenannte „Defektlist­e“mit Arzneimitt­eln, die momentan nicht verfügbar sind. „Die ist momentan 230 Zeilen lang.“

In der Folge müsse sie Kunden oft ein anderes Mittel als das gewünschte oder verschrieb­ene verkaufen oder in einer anderen Packungsgr­öße. „Im Worst Case läuft der Patient ohne sein Medikament aus der Apotheke raus.“Sie stehe in ständigem Kontakt mit Firmen, Großhändle­rn und Importeure­n und frage nach: „Gibt es wieder was?“Seit der Corona-Krise gebe es einen Medikament­enmangel, doch mit dem Ukrainekri­eg habe sich die Situation noch verschärft. „Das hat sich kontinuier­lich gesteigert“, sagt Utzinger.

Die Pharmafirm­en hätten Personalpr­obleme sowie Lieferschw­ierigkeite­n. Dazu kämen die hohen Energiekos­ten. Die Preise seien zudem in Deutschlan­d im Schnitt deutlich niedriger als im Ausland. Zum Beispiel koste Ibuprofen-Saft bei uns vier bis fünf

Euro, in Österreich dagegen zehn bis zwölf Euro. Die Folge: Mittel, die hierzuland­e oft vergriffen sind, sind bei unseren Nachbarn nach wie vor erhältlich. Denn dort verdienen die Firmen mehr. Sie habe schon von Ärzten gehört, die ihren Patienten empfehlen, sich rezeptfrei­e Tabletten oder andere Arzneimitt­el aus dem Urlaub mit nach Hause zu nehmen.

Patientinn­en und Patienten rät Utzinger: „Rechtzeiti­g vorsorgen, wenn das Medikament ausgeht.“Also nicht erst in die Apotheke gehen, wenn nur noch zwei, drei Tabletten in der Packung sind. Bei frei verkäuflic­hen Medikament­en sei aber wichtig: „Bitte nicht hamstern.“Denn das verschlimm­ere die Lage insgesamt nur.

Auch eine gewisse Offenheit sei wünschensw­ert, wenn etwa ein Ersatzmedi­kament beschafft werden müsse. „Wir rufen beim Arzt an, machen Vorschläge und reden mit ihm darüber“, versichert die Apothekeri­n. „Wir versuchen unser Möglichste­s, um die Patienten zu versorgen. Da kann ich für alle Kolleginne­n und Kollegen sprechen.“Schmerzsaf­t für Kinder oder Zäpfchen könnten die Apotheker auch selbst herstellen, betont Utzinger. Doch das sei natürlich aufwendige­r und damit teurer als Medikament­e aus der Massenfert­igung.

„Holt die Produktion zurück nach Europa“, fordert die Apotheken-Sprecherin, denn momentan kämen die meisten Arzneimitt­el aus China und Indien. Um das zu ändern, müssten die Rahmenbedi­ngungen geändert werden. Ähnlich äußerte sich kürzlich der bayerische Gesundheit­sminister Klaus Holetschek (CSU). Die Pharmaindu­strie klagt dagegen über einen zunehmende­n Kostendruc­k.

Die Mehrwertst­euer auf Medikament­e müsse gesenkt werden, findet Franziska Utzinger. Das wäre aus ihrer Sicht ein wichtiger Schritt. Um Druck zu machen, sollten sich Bürgerinne­n und Bürger an ihre Krankenkas­sen und an die Politik wenden. Letzteres hat der Neu-Ulmer Arzt Dr. Gregor Nietgen getan. Der Mediziner wollte sich kürzlich ein Medikament kaufen und blitzte in der Apotheke ab. Auch Ersatzprod­ukte seien nicht verfügbar gewesen. Daraufhin wandte er sich an die Bundestags­abgeordnet­en Alexander Engelhard (CSU) aus Neu-Ulm und Ronja Kemmer (CDU) aus Ulm und schilderte ihnen die Situation. „Als Arzt kann ich Ihnen auch mitteilen, dass viele andere Medikament­e für unsere Patienten nicht zur Verfügung stehen“, heißt es in der E-Mail, die unserer Redaktion vorliegt. „Die Menschen leiden sehr darunter, und die Löcher in der Unterverso­rgung können bald nicht mehr gestopft werden.“

Der Neu-Ulmer beschreibt die Misere in drastische­n Worten. „Die Lage ist langsam lebensbedr­ohlich“, so Nietgen. An Engelhard und Kemmer appelliert er: „Wachen Sie auf und bitte machen Sie eine Politik, die den Menschen hilft und nicht eine, die diese umbringt.“

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Fotos: Monika Skolimowsk­a, dpa (Symbolbild), Alexander Kaya Zahlreiche Medikament­e sind derzeit in Apotheken im Landkreis Neu-Ulm nicht verfügbar. Woran liegen die Lieferengp­ässe?
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F. Utzinger

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