Medikamentenmangel im Landkreis Neu-Ulm: „Es ist teilweise verheerend“
Apothekensprecherin Franziska Utzinger berichtet von mehr als 200 Arzneimitteln, die zeitweise nicht erhältlich sind. Was sie betroffenen Patientinnen und Patienten rät.
Landkreis Neu-Ulm Schmerzmittel, Antibiotika, Blutdrucksenker: Dutzende Medikamente sind derzeit knapp und zeitweise nicht erhältlich. „Ich bin jetzt seit zehn Jahren selbstständig, aber so etwas habe ich noch nicht erlebt“, sagt Franziska Utzinger, die Sprecherin der Apotheken im Landkreis Neu-Ulm und im Unterallgäu. „Tatsächlich ist es momentan teilweise verheerend, wie viele Arzneimittel nicht lieferbar sind.“Der Neu-Ulmer Arzt Dr. Gregor Nietgen hält die Lage sogar für lebensbedrohlich und hat deshalb einen Brandbrief an Bundestagsabgeordnete aus der Region geschrieben.
Franziska Utzinger, die Apotheken in Nersingen, Burlafingen und Pfuhl betreibt, muss derzeit immer wieder „hin und her improvisieren“oder sogar Kundinnen und Kunden vertrösten. „Es sind einfach so viele Medikamente, die es gerade nicht gibt“, sagt sie. Als Beispiele nennt sie Hustenlöser, Schmerzsaft für Kinder, Cholesterinsenker,
Insulin, aber auch Antibiotika und viele mehr. Die Apothekerin führt eine sogenannte „Defektliste“mit Arzneimitteln, die momentan nicht verfügbar sind. „Die ist momentan 230 Zeilen lang.“
In der Folge müsse sie Kunden oft ein anderes Mittel als das gewünschte oder verschriebene verkaufen oder in einer anderen Packungsgröße. „Im Worst Case läuft der Patient ohne sein Medikament aus der Apotheke raus.“Sie stehe in ständigem Kontakt mit Firmen, Großhändlern und Importeuren und frage nach: „Gibt es wieder was?“Seit der Corona-Krise gebe es einen Medikamentenmangel, doch mit dem Ukrainekrieg habe sich die Situation noch verschärft. „Das hat sich kontinuierlich gesteigert“, sagt Utzinger.
Die Pharmafirmen hätten Personalprobleme sowie Lieferschwierigkeiten. Dazu kämen die hohen Energiekosten. Die Preise seien zudem in Deutschland im Schnitt deutlich niedriger als im Ausland. Zum Beispiel koste Ibuprofen-Saft bei uns vier bis fünf
Euro, in Österreich dagegen zehn bis zwölf Euro. Die Folge: Mittel, die hierzulande oft vergriffen sind, sind bei unseren Nachbarn nach wie vor erhältlich. Denn dort verdienen die Firmen mehr. Sie habe schon von Ärzten gehört, die ihren Patienten empfehlen, sich rezeptfreie Tabletten oder andere Arzneimittel aus dem Urlaub mit nach Hause zu nehmen.
Patientinnen und Patienten rät Utzinger: „Rechtzeitig vorsorgen, wenn das Medikament ausgeht.“Also nicht erst in die Apotheke gehen, wenn nur noch zwei, drei Tabletten in der Packung sind. Bei frei verkäuflichen Medikamenten sei aber wichtig: „Bitte nicht hamstern.“Denn das verschlimmere die Lage insgesamt nur.
Auch eine gewisse Offenheit sei wünschenswert, wenn etwa ein Ersatzmedikament beschafft werden müsse. „Wir rufen beim Arzt an, machen Vorschläge und reden mit ihm darüber“, versichert die Apothekerin. „Wir versuchen unser Möglichstes, um die Patienten zu versorgen. Da kann ich für alle Kolleginnen und Kollegen sprechen.“Schmerzsaft für Kinder oder Zäpfchen könnten die Apotheker auch selbst herstellen, betont Utzinger. Doch das sei natürlich aufwendiger und damit teurer als Medikamente aus der Massenfertigung.
„Holt die Produktion zurück nach Europa“, fordert die Apotheken-Sprecherin, denn momentan kämen die meisten Arzneimittel aus China und Indien. Um das zu ändern, müssten die Rahmenbedingungen geändert werden. Ähnlich äußerte sich kürzlich der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU). Die Pharmaindustrie klagt dagegen über einen zunehmenden Kostendruck.
Die Mehrwertsteuer auf Medikamente müsse gesenkt werden, findet Franziska Utzinger. Das wäre aus ihrer Sicht ein wichtiger Schritt. Um Druck zu machen, sollten sich Bürgerinnen und Bürger an ihre Krankenkassen und an die Politik wenden. Letzteres hat der Neu-Ulmer Arzt Dr. Gregor Nietgen getan. Der Mediziner wollte sich kürzlich ein Medikament kaufen und blitzte in der Apotheke ab. Auch Ersatzprodukte seien nicht verfügbar gewesen. Daraufhin wandte er sich an die Bundestagsabgeordneten Alexander Engelhard (CSU) aus Neu-Ulm und Ronja Kemmer (CDU) aus Ulm und schilderte ihnen die Situation. „Als Arzt kann ich Ihnen auch mitteilen, dass viele andere Medikamente für unsere Patienten nicht zur Verfügung stehen“, heißt es in der E-Mail, die unserer Redaktion vorliegt. „Die Menschen leiden sehr darunter, und die Löcher in der Unterversorgung können bald nicht mehr gestopft werden.“
Der Neu-Ulmer beschreibt die Misere in drastischen Worten. „Die Lage ist langsam lebensbedrohlich“, so Nietgen. An Engelhard und Kemmer appelliert er: „Wachen Sie auf und bitte machen Sie eine Politik, die den Menschen hilft und nicht eine, die diese umbringt.“