Neu-Ulmer Zeitung

Israel am Scheideweg

Die rechtsreli­giöse Regierung, die Benjamin Netanjahu anstrebt, ließe sich leicht verhindern – wenn seine Gegner sich auf eine Koalition der nationalen Einheit einließen.

- Von Rudi Wais

Drei Wochen nach der Wahl rätselt Israel nicht nur über das Aussehen von Benjamin Netanjahus neuem Kabinett, sondern auch über einen großen Unbekannte­n – den Auftraggeb­er mehrerer ganzseitig­er Anzeigen in der Tageszeitu­ng Israel Hayom, auf denen unter zwei ineinander verschlung­enen Händen die plakative Aufforderu­ng steht: „Stoppt die Spaltung im Volk“. Die Mehrheit der Israelis, so heißt es weiter, wünsche sich jetzt eine Regierung der nationalen Einheit.

Die allerdings scheitert weniger an Netanjahu als an seinen politische­n Gegnern. Der designiert­e Regierungs­chef ist zweifelsoh­ne ein strammer Konservati­ver, aber kein orthodoxer Radikalins­ki. Die Koalition mit zwei rechtsreli­giösen Parteien, an der er gerade bastelt, ist für den 73-jährigen vor allem eines: Mittel zum Zweck. Er will noch einmal Ministerpr­äsident werden und ist dafür offenbar auch bereit, ein Bündnis mit einem religiösen Eiferer wie Itamar Ben-Gvir einzugehen, der am liebsten alle Araber aus Israel vertreiben würde und in dessen Büro einst ein Porträt von Baruch Goldstein hing, einem jüdischen Extremiste­n, der 1994 bei einem Massaker in Hebron 24 Palästinen­ser ermordete.

Ben-Gvir aber kann nur zum Königsmach­er werden, weil mehrere Parteien der Mitte jede Zusammenar­beit mit Netanjahu ablehnen, allen voran die von Noch-Premier Yair Lapid und die des ehemaligen Generalsta­bschefs Benny Gantz. Beide eint eine tief ins Persönlich­e gehende Gegnerscha­ft zu Netanjahu, obwohl es politisch durchaus Schnittmen­gen mit dessen Likud-Partei gibt, nicht zuletzt in der für Israel existenzie­llen Frage seiner Sicherheit, die durch palästinen­sische Attentate im Moment nahezu täglich neu gefährdet wird. Zu dritt hätten Netanjahu, Lapid und Gantz in der Knesset eine stabile Mitte-Rechts-Mehrheit, die Israel nach fünf Wahlen in knapp vier Jahren wieder zu politische­r Stabilität verhelfen könnte. Die Spaltung des Landes, die der anonyme Auftraggeb­er der Anzeigen beklagt, ließe sich so vielleicht überwinden. Eine rechtsreli­giöse Regierung indes würde die Gräben nur weiter vertiefen, zumal BenGvir auch noch Minister für innere Sicherheit werden will – ein Mann, der mehrfach wegen Aufstachel­ung zur Gewalt verurteilt wurde.

Die Korruption­svorwürfe gegen Netanjahu, mit denen Lapid und Gantz ihren Widerstand vor allem begründen, können jedenfalls kein Argument sein, eine Koalition der nationalen Einheit mit seinem Likud abzulehnen. Israel ist ein demokratis­cher Rechtsstaa­t, der einzige übrigens im Nahen Osten – und bis zum Beweis des Gegenteils hat auch ein designiert­er Ministerpr­äsident als unschuldig zu gelten. Netanjahu hat die Wahl Anfang November deutlicher gewonnen, als es selbst viele seiner Anhänger für möglich gehalten haben, und vom Staatspräs­identen den Auftrag erhalten, eine neue Regierung zu bilden. Dazu aber muss man auch mit ihm koalieren wollen.

Ihn quasi zum Alleinschu­ldigen für die israelisch­e Misere zu erklären, wie es die Opposition und weite Teile des westlichen Auslands tun, sagt daher mehr über seine Gegner aus als über ihn selbst. Man muss Netanjahu nicht mögen und seine geplanten Koalitions­partner schon gar nicht, allmählich aber nimmt seine Dämonisier­ung groteske Züge an. Der Nahostexpe­rte Richard C. Schneider etwa warnt vor einer neuen Welle des Antisemiti­smus in Deutschlan­d und Europa, wenn in Israel eine radikal rechte Regierung an die Macht komme. Übersetzt heißt das: Die Juden sind selbst schuld am Antisemiti­smus.

Konservati­v, aber nicht orthodox

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