Neu-Ulmer Zeitung

Ein Tabu namens Demenz

Die Zahl der Erkrankten steigt in Bayern. Vor allem Frauen sind betroffen. Doch Angst, Scham und Unwissenhe­it seien weit verbreitet, klagen Experten. Die Pflegebeau­ftragte des Bezirks Schwaben will gegensteue­rn.

- Von Daniela Hungbaur

Augsburg Wer von Demenz betroffen ist, werde oft von einer Minute auf die andere bevormunde­t, sagt Peter Wißmann. Das geschehe nicht aus böser Absicht, betont er, im Gegenteil. Dennoch verletze es Betroffene in der Regel tief und führe nicht selten sogar zu Wut und Verzweiflu­ng. Hat jemand diese Diagnose, werde er oft beispielsw­eise gar nicht mehr gefragt: Was schlägst Du vor? Was machst Du gerne? Was ist Dir wichtig? Weil mit der Diagnose viel zu oft nur noch der Blick auf die Beeinträch­tigungen gelenkt werde. Das müsse sich ändern, fordert der DemenzExpe­rte vom Team WAL, Wachstum ab der Lebensmitt­e, das seinen Sitz in Innsbruck hat und der eben erst bei einer Fachtagung in Augsburg war. Die Perspektiv­e der Betroffene­n sei entscheide­nd, werde aber zu wenig berücksich­tigt.

Das Problem sieht Wißmann aber auch darin, dass zu viele ihre Erkrankung so lange es irgendwie geht, verbergen. „Viele kommen erst, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist und Angehörige die Pflege nicht mehr schaffen.“Dann sei es aber viel zu spät. Der Sozialpäda­goge plädiert daher vor allem auch für einen massiven Ausbau von Angeboten für Frühbetrof­fene. Denn er weiß aus unzähligen Begegnunge­n, was alles möglich ist, wie positiv ein Leben auch mit kognitiven Einschränk­ung gelingt, wenn so früh wie möglich die richtigen Weichen gestellt und ein Netz an Assistenz geknüpft wird. „Demenz heißt nicht immer gleich Pflege“, betont er.

Eingeladen wurde Wißmann von Christine Rietzler, der Pflegebeau­ftragten des Bezirks Schwaben. „Lebensfreu­de trotz(t) Demenz“war der Fachtag überschrie­ben. Schließlic­h weiß auch Rietzler, „dass Demenz noch immer ein Tabuthema ist, eine Erkrankung, die mit großen Ängsten, aber auch Scham verbunden ist“. Dabei sind so viele betroffen: Im Freistaat leben derzeit nach Angaben des bayerische­n Gesundheit­sministeri­ums rund 270.000 Menschen mit Demenz. Etwa 70 Prozent davon sind Frauen. In Schwaben sind es schätzungs­weise 37.000. Tendenz steigend. Gerade weil immer mehr Menschen erkranken, „brauchen wir die breite Gesellscha­ft, die sich mit der Krankheit auskennt“, sagt Rietzler, eine gelernte Krankensch­wester. Ihr Ziel ist es, dass an Demenz Erkrankte so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung wohnen bleiben können, denn gerade ihr gewohntes Umfeld sei für die Betroffene­n so wichtig. Doch dafür müsse sich einiges ändern. Neben der Enttabuisi­erung der Erkrankung und der verstärkte­n Aufklärung wirbt Rietzler auch für Inklusion, das heißt, an Demenz Erkrankte müssen aus ihrer Sicht viel stärker an unserem gesellscha­ftlichen Alltag teilnehmen und nicht ausgeschlo­ssen werden. Konkret setzt sie beispielsw­eise verstärkt auf Nachbarsch­aftshilfe und ehrenamtli­che Demenzpate­n sowie Alltagsbeg­leitungen.

Birgit Baur ist seit 15 Jahren ehrenamtli­che Demenzpati­n, das heißt, sie sorgt für mehr Aufklärung über die Erkrankung. Die medizinisc­he Mitarbeite­rin einer Arztpraxis hat auch schon mehrere an Demenz erkrankte Familienan­gehörige begleitet und sie weiß, wie wichtig es ist, „dass man auf die Betroffene­n zugeht, mit ihnen liebevoll und empathisch umgeht“. Schließlic­h kann es jeden treffen, niemand hat es in der Hand. Doch Baur spürt, dass aktuell durch die vielen Krisen die Gesellscha­ft einfach weder Zeit noch Nerven hat:

„Solche persönlich­en Schicksale geraten gerade jetzt leider sehr ins Hintertref­fen.“Doch auch Baur ist wie Rietzler überzeugt davon, dass ein würdevolle­r Umgang mit den Betroffene­n nur möglich ist, wenn die Unterstütz­ung auf vielen Schultern verteilt wird.

Prof. Dr. Matthias Riepe beschäftig­t sich seit vielen Jahren mit Demenzerkr­ankungen. Er steht seit mehr als zehn Jahren an der Spitze der Abteilung Gerontopsy­chiatrie und Akutgeriat­rie am Bezirkskra­nkenhaus Günzburg und hat interimsmä­ßig auch die

Leitung der Klinik für Psychiatri­e, Psychosoma­tik und Psychother­apie übernommen. Auch er rät Menschen, die kognitive Einschränk­ungen an sich bemerken, so früh wie möglich einen Arzt aufzusuche­n. „Denn es ist nachgewies­en, dass durch eine sehr frühe Therapie die kognitiven Fähigkeite­n länger erhalten werden können.“Auch gebe es bereits gute Medikament­e, bei deren Einsatz sich beispielsw­eise gezeigt habe, dass die Zeit bis zur Einweisung in ein Pflegeheim um bis zu zwei Jahre verlängert werden konnte. Das sei nicht nur aus Kostengrün­den ein Argument für die frühe Medikation, „das bedeutet im Alltag wirklich ein Mehr an Lebensqual­ität für die Betroffene­n“.

Erster Ansprechpa­rtner ist der Hausarzt beziehungs­weise die Hausärztin. Allerdings sieht Riepe hier Probleme: „Viele Hausärzte beschäftig­en sich leider ungern mit dem Thema Demenz, da es komplex ist und es allein schon sehr aufwendig ist, überhaupt nachzuweis­en, dass eine Erkrankung vorliegt.“Auch beim Einsatz der Medikament­e sind nach Einschätzu­ng von Riepe viele Hausärzte

zu zögerlich. „Auch Hausärzte sind leider noch zu oft der Meinung, dass der Mensch mit dem Alter eben zwangsläuf­ig vergesslic­h wird.“

Und warum sind so viel mehr Frauen betroffen? Zuletzt hieß es, dass das follikelst­imulierend­e Hormon (FSH) dafür verantwort­lich sein könnte. Tierversuc­he hätten dies gezeigt. Riepe ist da skeptisch und erklärt: Bei der vaskulären Demenz, die infolge von Durchblutu­ngsstörung­en etwa im Gehirn entsteht, sind Männer stärker betroffen, bei der Alzheimer-Demenz Frauen. Ein wesentlich­er Grund, warum mehr Frauen an Alzheimer-Demenz erkranken ist für ihn die Tatsache, dass Frauen oft älter werden. Auffallend sei aber auch ein unterschie­dliches Testverhal­ten: „Frauen haben in der Regel ein höheres sprachlich­es Kompetenzr­epertoire und viele Demenztest­s basieren auf den sprachlich­en Fähigkeite­n. Das heißt, Frauen schneiden bei den Tests oft besser ab als Männer.“Das bedeute aber auch: Bei Frauen bleibt eine Demenz oft länger unentdeckt und damit leider auch unbehandel­t.

Es gibt auch gute Nachrichte­n: So beobachtet Dr. Jan Häckert, Leiter des Gedächtnis- und Therapieze­ntrums der psychiatri­schen Uniklinik Augsburg, dass die Gedächtnis­sprechstun­den nicht nur sehr gut angenommen werden. „Was mich sehr erfreut ist, dass sich vor allem Menschen mit frühen Symptomen bei uns melden.“Das sei die Zielgruppe, die von einem möglicherw­eise zukünftige­n Medikament profitiere­n könnte. Ein neues Präparat befinde sich nämlich in der Zulassungs­prüfung: Lecanemab. Es wäre das erste Präparat, das zur ursächlich­en Behandlung der Alzheimer-Erkrankung zugelassen wäre.

Lesen Sie dazu einen Kommentar auf der ersten Bayern-Seite.

„Viele Hausärzte beschäftig­en sich leider ungern mit dem Thema Demenz“

> Hilfe: Die Fachstelle für Demenz und Pflege Schwaben bietet eine kostenlose Informatio­n an, Mail: info@demenz-pflege-schwaben.de; Telefon 0831 / 697143-18; Gedächtnis­sprechstun­den bieten die Bezirkskli­niken Augsburg, Günzburg, Memmingen und Kempten an. Wer Demenzpate werden will findet Infos unter www.demenzpate­n-augsburg.de

 ?? Foto: Christin Klose, dpa (Symbolbild) ?? Demenz ist in der Regel eine schleichen­de Erkrankung. Wer an sich bemerkt, dass er zunehmend Gedächtnis­probleme hat, sich nicht mehr so gut wie früher orientiere­n kann, sollte den Problemen auf den Grund gehen.
Foto: Christin Klose, dpa (Symbolbild) Demenz ist in der Regel eine schleichen­de Erkrankung. Wer an sich bemerkt, dass er zunehmend Gedächtnis­probleme hat, sich nicht mehr so gut wie früher orientiere­n kann, sollte den Problemen auf den Grund gehen.

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