„Ich will nicht mehr“, schrieb mein Großvater
Lange Zeit wusste unsere Autorin nur, dass er Suizid beging. Aber unter welchen Umständen? Dann liest sie seinen Abschiedsbrief – und stößt auf Ryke Geerd Hamer, der eine gefährliche Theorie zur Krebsbehandlung verbreitete. Ihre kranke Großmutter hatte de
Mein Großvater Rudolf hat sich das Leben genommen. Da war ich sieben Jahre alt. Er habe ohne die Oma nicht mehr sein wollen, hat man mir damals gesagt. So wie man das einem siebenjährigen Mädchen erklärt: ohne zu viele Details. Die genauen Umstände werden mir erst jetzt – über 20 Jahre später – klar, als ich Großvaters Abschiedsbrief zum ersten Mal in den Händen halte.
Meine Großeltern waren zwar an Krankheit und Einsamkeit gestorben. Aber zur Wahrheit gehört auch, dass sie den Methoden eines Verschwörungstheoretikers aufgesessen sind. Den Theorien des ehemaligen Arztes Ryke Geerd Hamer, der für seine „Krebs-Behandlungen“zeitweise im Gefängnis saß und trotzdem immer weitermachte. Ein Mensch, der todkranke Patienten von überlebenswichtigen Therapien abhielt und dabei meinte, sie zu retten. Verschwörungserzählungen erhielten zuletzt mit der Corona-Pandemie große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit – Hamers Wirken begann jedoch Jahrzehnte zuvor. Und hat bis heute Folgen.
Ich sitze am Tisch im Wohnzimmer meines Vaters, wo wir für ein Familientreffen zusammengekommen sind, und lese zum ersten Mal den Brief. „Ich will nicht mehr“, schrieb Großvater Rudolf wenige Tage vor seinem Suizid. Seine zackige Schrift ist schwer zu entziffern. Immer wieder hat er im Text etwas ergänzt und anderes durchgestrichen. Es ist ein Chaos, wie vermutlich auch die letzten Monate seines Lebens. Am 20. Juli 2001 starb meine krebskranke Großmutter Irmgard. Nicht einmal zwei Monate später, am 7. September, beendete Rudolf sein Leben.
Seine letzten Worte schrieb er auf die Rückseite von alten Rechnungen und Briefen. Er sei sparsam gewesen, erzählt mein Vater. Ich selbst kannte ihn kaum. Mein Vater erzählt noch mehr. Von einem gewissen Dr. Hamer eben, an dessen Theorien zur Krebstherapie meine Großeltern glaubten. Er kramt zwei Bücher hervor: ein dickes mit goldfarbenem Einband und ein schmäleres mit dem Bild eines Jungen auf dem Umschlag. Hamers Sohn Dirk, der eine zentrale Rolle in seiner Geschichte spielt. Ich beginne zu lesen und dann zu recherchieren. Es lässt mich nicht los.
Dies also ist auch die Geschichte eines Mannes, der sich von der Welt nicht verstanden fühlte und den einzigen Ausweg darin sah, sich seine eigene zu kreieren. Die Geschichte beginnt 1978, als Hamer einen schweren Schicksalsschlag erfuhr, von dem er in seinen Büchern erzählt. Sein
Hamer riet von den wissenschaftlich anerkannten Therapien ab
damals 19-jähriger Sohn Dirk starb nach einer Schießerei vor der Küste Korsikas. „Der schwärzeste Tag in meinem Leben“, schreibt Hamer. Zwei Monate später erkrankt der Arzt an Hodenkrebs und vermutet einen Zusammenhang mit dem Tod seines Sohnes, einen, wie er es später nennt, „Verlustkonflikt“. Hamers Theorie zufolge wird jede Krebserkrankung von einem hochdramatischen Schockerlebnis ausgelöst. Dieses Erlebnis hinterlasse Spuren im Gehirn, die wiederum, so seine Theorie, den Krebs in einem bestimmten Organ auslösten. Das Zusammenspiel bezeichnet er als „Eiserne Regel des Krebses“. Es ist der Grundstein für die von Hamer begründete „Neue Medizin“oder auch „Germanische Neue Medizin“: Nur durch die Lösung des Konflikts könnten Menschen geheilt werden.
Mag Hamers Theorie für manche medizinische Laien nachvollziehbar klingen, so ist sie wissenschaftlich betrachtet keinesfalls bewiesen. Die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) hält die Theorie laut einer Stellungnahme vom März dieses Jahres für „gefährlich“und „unethisch“. Die DKG verweist auf mehrere Studien, denen zufolge Menschen mit Depressionen nicht häufiger an Krebs erkranken. Das gelte auch für Menschen mit anderen gravierenden Stressfaktoren, etwa der ernsthaften Erkrankung des eigenen Kindes. Die DKG sieht Hamers Grundhypothese als widerübte. legt an. Es handle sich dabei um eine „in der Biografie und in Träumen von Herrn Hamer begründete Theorie ohne wissenschaftliche oder empirische Begründung“.
Medizin aus der Traumwelt? Was absurd klingt, beschreibt Hamer in seinen Büchern. Dort erzählt er, dass sein Sohn Dirk ihm nach dessen Tod in seinen nächtlichen Träumen erschienen sei. So beschreibt der Arzt, wie er sich von Dirk bestärkt fühlte. Mit ihm habe er sich beratschlagt, als er unsicher gewesen sei. Dieser habe ihn gelobt für seine Entdeckungen und ihm die Richtung gewiesen.
Er stellt seinen Sohn als eine Art allwissende Stimme aus dem Jenseits dar. Das liest sich dann wie folgt: „Nun fehlt Dir nur noch eins, dann hast Du alles gefunden, Du darfst noch nicht aufhören.“Und an anderer Stelle: „Jetzt hast Du alles. Nichts fehlt Dir mehr. Ganz genau so verhält es sich. Du kannst es jetzt alles zusammen auf meine Verantwortung veröffentlichen, ich verspreche Dir, du wirst Dich nicht blamieren, denn es ist die Wahrheit.“Nur erklärte der Traum-Dirk seinem Vater wohl nicht, wie genau er Verantwortung für diese Theorien übernehmen wolle. Die Konsequenzen musste Hamer, wenn man so will, schon selbst ausbaden – und auf schmerzliche Weise auch seine Anhänger, von denen einige mit dem Leben bezahlten. Wie viele Menschen aufgrund seiner Theorie starben, lässt sich nicht feststellen. In einer seiner diversen illegalen Kliniken jedenfalls überlebten nur sieben von 50 Patientinnen und Patienten. Die österreichische Medizinjournalistin Krista Federspiel schätzt, dass sich seit 1983 mehr als 500 Menschen auf Hamers Theorie verließen und starben – wobei unklar ist, wie viele der Opfer auch so gestorben wären.
Gefährlich sind die Theorien Hamers vor allem deshalb, weil er die wissenschaftlich anerkannte Krebstherapie für kontraproduktiv erklärt. „Gehen Patienten, die zur Konfliktlösung und Behandlung bei mir waren, wieder in schul- oder brutalmedizinische Behandlung…, dann sind sie fast alle dem Tode geweiht“, schreibt er. In seinen Büchern werden Ärzte zu „Unärzten“und „Brutalmedizynikern“, wissenschaftliche Medizin wird zur „Schülermedizin“degradiert. In einer neueren Auflage spricht Hamer plötzlich von „jüdisch-christlicher Medizin“. Das Wort „jüdisch“ist fett gedruckt.
„Hamers Theorie ist mehr als eine Verschwörungstheorie“, sagt der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Thomas Heichele von der Universität Augsburg. „Es ist auch eine Pseudowissenschaft.“Dass die Wissenschaft seine „Eiserne Regel des Krebses“abgelehnt hat, erkläre Hamer mit einer jüdischen Weltverschwörung, die verhindern wolle, dass diese Erkenntnisse allgemein anerkannt würden. Hamer glaubte zudem laut einem Interview mit „Report München“des Bayerischen Fernsehens, dass Menschen Chips mit Giftkapseln eingesetzt würden, die per Satellitensignal deren Tod verursachten. „Jedes Gegenargument wird stets so umgedeutet, dass es letztlich doch die eigene Position stützt“, sagt Heichele. Den Impuls, sich gegen Argumente zu sträuben, die das eigene Weltbild infrage stellen, habe allerdings jeder Mensch.
Wie erkennt ein Mensch dann, ob er es mit Wissenschaft oder einer Verschwörungserzählung zu tun hat? „Das ist schwer“, räumt Heichele ein. „Grundsätzlich gilt in der Wissenschaft, dass man auch falsch liegen kann. Diese Zweifel haben Verschwörungstheoretiker nicht.“Außerdem müsse eine Theorie objektiv und reproduzierbar sein. Heichele nennt ein Beispiel: „Ich könnte jetzt behaupten, ein Drache trinkt in meiner Garage ein Glas Milch, ist aber im nächsten Augenblick verschwunden.“Das sei nicht überprüfbar, also keine wissenschaftliche Theorie.
Mehrere Instanzen versuchten Hamer aufzuhalten. Das geht aus einigen Entscheidungen hervor: 1981 zum Beispiel wurde Hamers Habilitationsschrift über das „Dirk-Hamer-Syndrom“und die „Eiserne Regel des Krebses“von der Universität Tübingen abgelehnt. Mit der Habilitation hätte Hamer die Berechtigung erhalten, sein Fach an der Hochschule zu unterrichten. Grund für die Ablehnung: Hamer habe nicht wissenschaftlich gearbeitet. 1986 entzog die Bezirksregierung von Koblenz dem Arzt die Approbation und damit die Erlaubnis zur Ausübung des Berufs. Hamer sehe nicht ein, dass es für seine Theorie „nicht den geringsten praktischen Beweis“gebe. Patienten würden „unnötigerweise gequält“.
1993 verurteilte das Landgericht Köln Hamer zu vier Monaten Haft, weil er seinen Beruf ohne Approbation weiter aus2004 wurde er von einem Gericht im französischen Chambéry wegen Betrugs und illegaler Ausübung des Berufs zu drei Jahren Haft verurteilt.
Doch Hamer gab nicht auf. Er verbreitete weiter seine Theorien und ließ über den Verlag „Amici di Dirk“– Freunde von Dirk – seine Bücher drucken. Ein Blick ins Handelsregister bestätigt: Den Verlag hatte Hamer selbst gegründet. Das dicke, goldene Buch, das mein Vater hervorgekramt hat, erschien erstmals 1987. Über 700 Seiten füllt Hamer, ein Literaturverzeichnis sucht man vergeblich. In dem dünneren Buch mit Dirks Bild auf dem Einband gibt es zwar ein solches Verzeichnis. Das liest sich aber eher wie eine Einkaufsliste für Hamers Anhänger. Teilweise sind Preise mit abgedruckt, und am Ende folgt ein Hinweis, wo die Werke bestellt werden können: beim Verlag „Amici di Dirk“.
„Weil Hamer Mist fabriziert, muss er die wissenschaftliche Überprüfung umgehen und wendet sich direkt an die Öffentlichkeit“, sagt Uni-Experte Thomas Heichele.
Großvater hätte misstrauisch werden können
„Man muss einfach Vertrauen in die Institutionen haben. Man kann nicht alles verstehen oder wissen.“Allerdings ist es wohl leichter, Vertrauen in eine Person aus Fleisch und Blut aufzubauen als in eine Institution.
Als meine Großmutter krank wurde, gab es schon genügend kritische Informationen zu Hamers Theorie. Vor allem mein Großvater, der als Tierarzt etwas von Medizin verstand, hätte misstrauisch werden können. Zumal der Fall eines österreichischen Mädchens in den 90er Jahren für internationales Aufsehen gesorgt hatte. Es war im Alter von sechs Jahren an Krebs erkrankt. Übereinstimmenden Medienberichten zufolge flohen die Eltern mit dem Kind nach Spanien, um eine Chemotherapie zu verhindern. Sie glaubten an Hamers angebliche Heilmethoden. Auf Druck der Behörden, die den Eltern zuvor das Sorgerecht entzogen hatten, kam das Kind doch noch in ein Krankenhaus und überlebte. Der Vater des Mädchens zählt heute trotzdem zu Hamers engagiertesten Anhängern.
Andere Kinder hatten weniger Glück und starben. Eine Zwölfjährige aus dem Allgäu zum Beispiel. Sie war 2009 an Krebs erkrankt, der zuerst mit einer Chemotherapie behandelt wurde. Doch das Kind litt. Ihre Tochter habe die Chemo nicht mehr gewollt, erzählte die Mutter später unserer Redaktion. Also brachen die Eltern die Therapie ab und wandten sich an Hamer. An Heiligabend desselben Jahres starb das Mädchen. Immer wieder stoße ich in meiner Recherche auf die Geschichten von Familien, die sich trotz des schrecklichen und womöglich vermeidbaren Todes eines Angehörigen nicht von Hamer abwenden. Nicht zuletzt ist es die Geschichte meiner eigenen Familie.
Meine Großmutter Irmgard litt an Lungenund Leberkrebs. Sie und mein Großvater Rudolf versuchten, diesen unter anderem mit Hamers „Methode“zu behandeln. Wie stark Irmgard daran geglaubt hat, kann ich nicht mehr nachvollziehen. Zu Hamers direkten Opfern gehört sie nicht. Sie starb nicht an unbehandeltem Krebs, sondern an einer Thrombose.
Der Fall meines Großvaters ist jedoch eindeutig. Im Abschiedsbrief schrieb er von seiner „Schuld“und seinem „Versagen“, die ihm nun „so richtig deutlich“würden. Aber: „Nicht am Krankenbett und als Pfleger, sondern als Hamerjüngling.“Er empfand die Schuld nicht deswegen, weil er dem Ex-Mediziner glaubte, sondern weil er überzeugt davon war, Hamers unwissenschaftliche Methoden nicht richtig angewendet zu haben.
Ryke Geerd Hamer ist nach Medienberichten seit 2017 tot. Seine Theorie lebt weiter. Diverse Foren im Internet werden regelmäßig mit neuen Beiträgen, Erklärungen und Übersetzungen bestückt. Auch im Messengerdienst Telegram finden sich Kanäle zur „Germanischen Neuen Medizin“und der „Eisernen Regel des Krebses“. Die Followerzahlen gehen in die Zehntausende.