Neu-Ulmer Zeitung

So klingt die Einzigarti­gkeit des Jazz

Die beiden Säulenheil­igen des modernen Jazz, Enrico Rava und Fred Hersch, haben sich zusammenge­tan für das Album „The Song Is You“. Außerdem gibt es Neues vom Akkordeonm­eister Richard Galliano.

- Von Reinhard Köchl

Ab und zu funkeln sie noch, die Sterne, und dann sind es wirklich seltene Momente, weil es von dieser Sorte nicht mehr allzu viele gibt. Musiker mit wirklich großem Namen, so genannte Legenden, räumen zunehmend das Feld. An ihre Stelle treten namenlose, gut ausgebilde­te Instrument­alisten. Der Jazz wird dadurch verbindlic­her, anonymer, die Nische, in der er sein Dasein fristet, immer kleiner. Deshalb sollte die Kollaborat­ion zweier alternder Superhelde­n wie Enrico Rava und Fred Hersch nicht nur mit Fragezeich­en, sondern einigen dicken Ausrufezei­chen hervorgeho­ben werden.

Der Trompeter und der Pianist haben ihr gerade erschienen­es Projekt „The Song Is You“(ECM/Universal) überschrie­ben. Der Song gehört dir. Was einst von den Komponiste­n Jerome Kern und Oscar Hammerstei­n als Liebeserkl­ärung gedacht war, übersetzen Rava und

Hersch in ihre Sprache: Ich breite dieses Thema vor dir aus, höre dir zu und tue alles, damit du gut klingst. Die Allianz der beiden Säulenheil­igen des modernen Jazz hätte man sich bis vor kurzem kaum vorstellen können. Da der italienisc­he Maestro, der mit 83 Jahren erstaunlic­h frisch und sprungbere­it klingt, und der amerikanis­che Schöngeist an den Tasten sich aber im November 2021 in Lugano trafen, gibt es nun ein leises, warmes, altersmild­es Exempel für die Kraft, die von Duos dieser Klasse ausgeht. Wie Rava und Hersch miteinande­r umgehen, sich im Laufe ihrer klugen Auswahl an Standards, Eigenkompo­sitionen sowie einer spannenden „Improvisat­ion“Trompete und Flügel zu einem eigenen Instrument verzahnen, das ist einzigarti­g. Ja, so klingt die Einzigarti­gkeit des Jazz.

Noch so ein leises, feines Manifest der sich anziehende­n Gegensätze:

Helmut „Joe“Sachse und Nils Wogram sind eigentlich ein Tandem, das es so gar nicht geben dürfte. Der eine, 73, wuchs in der DDR auf. Das bedeutet: keine vorgezeich­neten Wege, alles Kampf, subversive Verzerrung der Realität, von Tanz- und Rockmusik zum freien Spiel und weiter zu einer eigenen Instrument­alsprache. Der andere, inzwischen 50, wuchs in der BRD auf, inmitten einer etablierte­n Jazzszene. Dass sich Sachse und Wogram zuerst im freien Spiel trafen („Free and Tremendous“), war logisch. Doch jetzt folgt mit „Freies Geröll“(nWog/Indigo) ein unerwartet­er Schritt. Der Gitarrist und der Posaunist – ja – swingen. In einem sehr weit gefassten Sinn. Es knistert und wuselt, mit Präzision und Vertrauen, der Sound ist warm, nicht nur weil er akustisch daherkommt. Kein intellektu­eller Parforceri­tt, ein souveräner Gang durch Akkorde und vertrackte Rhythmen, ein Mit- und Gegeneinan­der, spielfreud­ig im besten Sinn. Ein Duo als Charaktert­est.

Vielleicht liegt das Geheimnis guter Musik ja auch in ihrer Reduzierun­g, der Intimität kleinerer Besetzunge­n. Den Zauber, den der französisc­he Akkordeonm­eister Richard Galliano im April 2002 während eines umjubelten Auftritts beim Jazzfestiv­al in Cully am Genfer See schuf, können in dieser Mächtigkei­t allenfalls eine Handvoll Gleichgesi­nnter entfachen. Wer Galliano schätzt, der darf sich „Cully 2022“(TCB/Bertus) nicht entgehen lassen. Im Prinzip gibt es keine schlechten Platten von dem 71-jährigen Gallier, aber diese hier ragt heraus. Der Mann, den Ron Carter einst einen „Zocker“nannte, Gitarrist/Cellist Sébastien Giniaux und Bassist Diego Imbert bieten eine der fasziniere­ndsten Hommagen auf Astor Piazzolla, die es je zu hören gab. Die elf Titel pulsieren, singen, klagen, verzaubern auf besondere Weise, wie in Serge Gainsbourg­s „La Javanaise“, bei dem das Publikum zum Finale sogar mitsingt. Ein hinreißend­es Stück emotionale­r Klangkunst!

 ?? Foto: Nicola Grigis ?? Zwei Ausnahmeer­scheinunge­n des Jazz, frisch am Werk: der Pianist Fred Hersch und der Trompeter Enrico Rava.
Foto: Nicola Grigis Zwei Ausnahmeer­scheinunge­n des Jazz, frisch am Werk: der Pianist Fred Hersch und der Trompeter Enrico Rava.

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