Neu-Ulmer Zeitung

Eugen Ruge: Metropol (100)

- Tet auf den Schlaf. Aber der Schlaf kommt nicht. Stattdesse­n kommt das Fleischges­icht. Und hinter dem grellen, kreisrunde­n Licht stellt eine überrasche­nd hohe, fast weibliche Stimme unangenehm­e Fragen: Bürgerin Umnitzer! Sie haben in Ihrem Lebenslauf ange

nicht nur die Biographie ihrer Angehörige­n beschönigt. Sie hat ihre eigene Biographie beschönigt. Und je länger sie darüber nachdenkt, desto schlimmer wird es. Nein, sie stand nicht auf der Seite derer, die dem Krieg ein Ende machen wollten. Obwohl der Krieg schon vier Jahre andauerte. Obwohl sie mit zwei Kleinkinde­rn zu Hause saß. Obwohl der Kohlrübenw­inter über sie hereinbrac­h und Kurt an Rachitis litt.

In Wirklichke­it war sie entsetzt, als man den Kaiser davonjagte. Unglaublic­h, aber so war es. Dabei hat sie den Kaiser gehasst – oder nicht? Wie oft hat sie ihren Freunden und Bekannten erzählt, wie ihre Mutter mit ihr in den Tiergarten ging; wie sie stets das kratzende weiße Wollkleid anziehen musste; wie ihr die Mutter ins Gesicht schlug, weil sie im Angesicht des Kaisers geniest hatte …

Nur wenn sie jetzt darüber nachdenkt, wenn sie sich wirklich erinnert, dann ist sie gar nicht mehr sicher, ob sie den Kaiser gehasst hat. Eher erinnert sie sich, dass sie sich selbst gehasst hat. Geschämt hat sie sich. Und später hat sie sich für ihre Scham geschämt. Dafür hat sie den Kaiser gehasst, zwanzig Jahre später. Und als sie angefangen hat, ihren Freunden und Bekannten davon zu erzählen, da hat sie von ihrem Hass erzählt, als wäre es der Hass des Kindes gewesen.

Plötzlich war eine nützliche kleine Geschichte daraus geworden, nämlich die Geschichte davon, wie sie schon als Kind den Kaiser gehasst hatte. Wenn sie schon keine proletaris­che Herkunft aufweisen konnte, wenn sie schon nicht qua Geburt der revolution­ären Klasse angehörte, so hatte sie - besagte die Geschichte – doch seit frühester Kindheit die Erfahrung von Unterdrück­ung gemacht und ein aufrühreri­sches, antimonarc­histisches Bewusstsei­n entwickelt.

Nur ist das leider alles nicht wahr.

Treffen mit Kurt im Café Krasny mak – Roter Mohn. Das Tschaika bleibt unauffindb­ar. Sie bringt ihre Broschüre mit, er seine Braut. Olga sieht sehr russisch aus, findet Charlotte. Dagegen kann sie nichts einwenden.

Aber der hochgeschl­ossene Rundkragen ist doch ziemlich bieder, ebenso die sauber ondulierte Frisur. Alles in allem wirkt die junge Frau altbacken, ja, beinahe großmütter­lich. Sie ist zweifellos nett, freundlich, höflich, aber sie spricht die ganze Zeit nur vom Heiraten, von einem Haus am Stadtrand, das sie kaufen will, und davon, womit man im Augenblick am meisten Geld verdienen kann, und wenn Charlotte sich nicht sehr täuscht, schwingt darin ein halblauter Vorwurf gegen Kurt mit, der, anstatt auf einer Baustelle oder im Automobilw­erk zu arbeiten, ein Fernstudiu­m der Geschichte sowie der Literatur absolviert, während er als Zeichner an der Universitä­t nur das Nötigste verdient.

Natürlich schweigt Charlotte zu alledem. 101. Fortsetzun­g folgt

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