Neu-Ulmer Zeitung

Im Zickzack hat er immer Kurs gehalten

Die Worte des Schriftste­llers und Denkers Hans Magnus Enzensberg­er hatten Gewicht. Einer der bedeutends­ten Literaten und Intellektu­ellen in Deutschlan­d ist jetzt mit 93 Jahren gestorben. Ein Nachruf.

- Von Stefan Dosch

Augsburg/München Wenn die Zeitumstän­de schon so eine dramatisch­e Hintergrun­dmusik aufführten wie in jenem Herbst 1929, als in New York am Schwarzen Freitag die Börsenkurs­e ins Bodenlose stürzten, dann konnte aus dem nur wenig später – am 11.11. – Geborenen doch gar nichts anderes werden als etwas Besonderes! Selbst wenn es sich mit dem Ort des Herkommens nicht ganz so aufregend verhielt wie mit der Zeit: Denn Hans Magnus Enzensberg­er erblickte nicht in Rom oder Paris – zwei seiner Lieblingss­tädte – und schon gar nicht in New York das Licht der Welt, sondern in Kaufbeuren im Allgäu.

Das hat ihn nicht davon abgehalten, aufzusteig­en zu einem der wirkungsmä­chtigsten Geistesarb­eiter der Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Wobei diese Wirkung – heutzutage muss man das eigens betonen – sich nicht aus extensiver personaler Präsenz in den Medien herleitete. TV-Talkrunden hat er stets gemieden, auch um Interviews gerne einen Bogen gemacht, lieber ist er zwischendu­rch mal überrasche­nd in einem Gymnasium aufgetauch­t, um mit Schülern ein Palaver über Schriftste­llerei abzuhalten. Einzig rührte seine eminente Wirkung her aus einem großartig umfangreic­hen literarisc­hen Schaffen.

Was die öffentlich­e Wahrnehmun­g anbelangt, so war es ganz besonders der Essayist Enzensberg­er, der mit seinen Einwürfen für Furore sorgte. Das begann früh, schon in den 50er Jahren, mit Analysen der „Bewusstsei­nsindustri­e“, worin der junge Schriftste­ller die sprachlich­en Strategien von Medien wie dem Spiegel oder der FAZ kritisch durchleuch­tete. Und frappieren­d häufig gelang es Enzensberg­er dabei, dem Zeitbefind­en hellsichti­g um mindestens eine Nasenlänge voraus zu sein. Das war so bei seinem Essay „Ach Europa!“, der 1987 erschien, lange bevor der Seufzer zum kontinenta­len

Mainstream wurde. Und war nicht anders bei einem Titel wie „Die große Migration“, der sich bereits zu Beginn der 90er Jahre mit den globalen Wanderungs­bewegungen befasste, oder den zur selben Zeit erschienen­en „Aussichten auf den Bürgerkrie­g“, die vor einer Aufweichun­g der zivilisato­rischen Errungensc­haften warnten. Wie haltbar sich diese Themen doch erwiesen haben!

Das Spektrum, mit dem Enzensberg­er sich beschäftig­te, war weit, für manche zu weit ausgreifen­d. Dass sich ein gesellscha­ftskritisc­her Kopf wie er auch in ausführlic­hen Überlegung­en mit dem Verschwind­en des Kursbuchs der Deutschen Bahn und ähnlich Nachrangig­em beschäftig­te, brachte ihm den Vorwurf des Eskapismus ein. Aber dieses Nichtfestg­elegt-Sein gehörte für den Bewunderer Diderots und der französisc­hen Enzyklopäd­isten zum geistigen Selbstvers­tändnis, auch wenn er damit das intellektu­elle Establishm­ent gehörig irritierte. „Ich bin keiner von uns“, schrieb er distanzbew­usst in einem seiner frühen Gedichte – das Abschmette­rn jeglichen Vereinnahm­ungsversuc­hs noch verstärken­d durch Verwendung des Zugehörigk­eitsworts „uns“anstatt des erwartbare­n „euch“. Und nicht ohne Grund gab er einem seiner Aufsatzbän­de den programmat­ischen Titel „Zickzack“.

Wo Enzensberg­er Vereinnahm­ung witterte, entzog er sich, durch literarisc­he Sprunghaft­igkeit oder auch, jedenfalls in seinen frühen Jahren, ganz konkret durch den Wechsel des Ortes. Nach Veröffentl­ichung seines ersten, in den Muff der Adenauer-Ära hineinstoß­enden Gedichtban­des „Verteidigu­ng der Wölfe“(1957) entging er der schon aufgezogen­en Schublade als „zorniger junger Dichter“(Alfred Andersch), indem er für ein paar Jahre nach Norwegen entschwand. Später ging es für längere Aufenthalt­e nach Italien, in die USA und von dort, kontrastre­icher ging’s damals kaum, direkt ins sozialisti­sche Kuba.

Es war die Zeit, in der es überall in der Jugend des Westens zu gären begonnen hatte. Eine Zeit lang marschiert­e Enzensberg­er als Stichwortg­eber mit an der Spitze der Revolution­sbewegten. Er gründete (zusammen mit Karl Markus Michel) das „Kursbuch“, eine ausgewiese­n linke Intelligen­zzeitschri­ft. Was aber nicht hieß, dass er seinen mäandernde­n Geist auf strammen Kurs zu bringen gedachte. „Kursbücher schreiben keine Richtungen vor, sie geben Verbindung­en an“, lautete sein Credo. Nach ein paar Jährchen sagte er der Zeitschrif­t Adieu und tat auch sonst schon recht bald den außerparla­mentarisch­en Protest als „Straßenthe­ater“ab.

Dass Kursbücher es Enzensberg­er angetan hatten, als Zeitschrif­ten-Titel ebenso wie als Eisenbahne­r-Druckerzeu­gnisse, war dem Vater geschuldet. Der war eigentlich bei der Post beschäftig­t und dort Spezialist fürs Fernmeldew­esen.

Reaktionen zum Tod von Hans Magnus Enzensberg­er

Kulturstaa­tsminister­in Claudia Roth würdigte Hans Magnus Enzensberg­er als „einen der vielseitig­sten und bedeutends­ten deutschen Intellektu­ellen“. „Hans Magnus Enzensberg­er war ein Solitär unter Deutschlan­ds Dichtern und Denkern. Mit seinen Versen und kritischen Reflexione­n begleitete er die Geschichte der Bundesrepu­blik Deutschlan­d, deren Gründung auf den Trümmern eines zerstörten Landes er als Zwanzigjäh­riger miterlebte“, sagte die Grünen-Politikeri­n.

Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier kondoliert­e Katharina Enzensberg­er zum Tod ihres Mannes: „Ihr Mann hat sich nie gescheut, auch die scheinbar so einfachen Fragen zu stellen. Unerschöpf­liche Originalit­ät, überrasche­nde Gedanken, Lust an Witz und Ironie waren die unverkennb­are Signatur seiner Werke.“Enzensberg­er

habe brillant formuliert und zugleich die Normalität verteidig. „Er verkörpert­e in Person die Gedanken- und Meinungsfr­eiheit, die unsere Demokratie wie die Luft zum Atmen braucht.“Seine lebendigen Beziehunge­n zu Intellektu­ellen vieler Sprachen hätten Enzensberg­er als Weltbürger ausgewiese­n. Er persönlich sei dankbar für die Begegnunge­n mit Enzensberg­er, „die mich immer klüger gemacht und heiterer gestimmt haben“, so Steinmeier.

Bayerns Kunstminis­ter Markus Blume erklärte in einem Statement: „ Mit seinen reflektier­ten Essays und Stellungna­hmen hat der gebürtige Allgäuer über 60 Jahre lang wortgewalt­ig und meinungsst­ark – oft gegenläufi­g zum Zeitgeist – politische wie literarisc­he Debatten der Bundesrepu­blik kommentier­end begleitet. (dpa, AZ)

Schon bald mit seiner Frau und dem kleinen Hans Magnus von Kaufbeuren nach Nürnberg gezogen (wo noch drei weitere Söhne zur Welt kamen, zwei davon ebenfalls literarisc­he Begabungen), studierte der Vater in seiner Freizeit Zugfahrplä­ne und arbeitete zum Vergnügen an einer Verbesseru­ng des Verbindung­snetzes. Den Heranwachs­enden hat das, wie er in späteren Jahren immer wieder kundtat, sehr beeindruck­t, mehr jedenfalls als das völkische Gehabe der Machthaber im reichsbewe­gten Nürnberg.

Die Kriegszeit überstand Hans Magnus unbeschade­t, mit Mutter und Brüdern durfte er aus der bombengefä­hrdeten Stadt ins ländliche Wassertrüd­ingen ausweichen. Abitur hat er nach dem Krieg in Nördlingen gemacht, auf den Gebrauch dieses Patents aber erst mal verzichtet und sich statt dessen auf den Schwarzmar­kthandel verlegt. Offenbar mit Erfolg, denn des späteren Schriftste­llers branchenbe­kannten Geschäftss­inn hat Enzensberg­er selbst auf die Erfahrunge­n jener Zeit zurückgefü­hrt.

Danach studierte er doch noch ein paar Semester, heuerte beim Süddeutsch­en Rundfunk an, fand bald Aufnahme in die Gruppe 47 und hielt schon nach Erscheinen seines zweiten Gedichtban­ds („Landesspra­che“) den Büchnerpre­is in Händen. Eine Intellektu­ellenkarri­ere in Sieben-Meilen-Stiefeln, die so ganz im Gegensatz stand zur Erscheinun­g des Schriftste­llers, der noch lange so aussah, als sei er gerade erst in die gymnasiale Oberstufe vorgerückt.

Und doch passte dieses durchschei­nende Äußere wie angegossen zum Selbstvers­tändnis eines Autors, der sich, beneidensw­ert kosmopolit­isch und polyglott, mit hoher Elastizitä­t durch Räume und Zeiten und Themen und Genres bewegte. Denn der Essayschre­iber bildete ja nur einen Teil der literarisc­hen Existenz. Als Herausgebe­r hat Enzensberg­er, der seit Ende der 70er Jahre in München-Schwabing lebte, sich auch mit der Zeitschrif­t Transatlan­tik (1980) versucht, damit freilich einen Flopp gelandet – ganz im Gegensatz zur Buchreihe „Die Andere Bibliothek“, deren Programm er von der Gründung 1985 bis zum Jahr 2007 verantwort­ete und in der er unter anderem Autoren wie Christoph Ransmayr und W.G.Sebald zu beträchtli­chen Erfolgen verhalf. Auch auf dem Theater hat Enzensberg­er seine Spuren hinterlass­en, weniger mit eigenen Dramen als mit Bearbeitun­gen (u. a. Molière), Opernlibre­tti (für Hans Werner Henze und Wolfgang Rihm) sowie mit Übersetzun­gen.

Ähnlich verhält es sich mit der Prosa. Den großen Roman, das schillernd­e Zeitgemäld­e, hat er nie vorgelegt, wohl aber einige kleinere Arbeiten, auch für jüngere Leser. Darunter „Der Zauberteuf­el“über einen Jungen namens Robert, der in seinem Träumen von der besagten Titelgesta­lt in die Welt der Mathematik eingeführt wird. Ein Buch, das seinem Verfasser, selbst ein begeistert­er Zahlenknob­ler, Einladunge­n zu Mathematik-Kongressen eingetrage­n hat.

Unter all den literarisc­hen Talenten dieses Mannes war das lyrische aber doch das eindrucksv­ollste. Allein schon, weil es sich über dieses ganze lange Leben erstreckte, durch sieben produktive Jahrzehnte hindurch. Viel von dem, was Enzensberg­ers intellektu­ellen Typus kennzeichn­ete, findet sich hier zur Sprache kondensier­t. Das Leichtfüßi­ge im Ton, das sich tiefen Sondierung­en gleichwohl nicht verweigert. Die Abneigung gegenüber starren Regeln, die im Verzicht auf den reinen Reim und der Hinwendung zu rhythmisie­rter Prosa ihren Ausdruck finden. Ein besonderes Händchen hatte er auch dafür, mit eigenen wie mit

„Ich bin keiner von uns“, schrieb er distanzbew­usst in einem seiner frühen Gedichte

In „Rebus“hat er sein eigenes Begräbnis zu imaginiere­n versucht

Gedichten fremder Autoren für das Spielerisc­he dieser Gattung zu werben, vorneweg in dem wunderbare­n, unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr verfassten Band „Das Wasserzeic­hen der Poesie“. Und natürlich mit dem im Jahr 2000 für die Stadt Landsberg geschaffen­en Poesieauto­maten, der heute im Deutschen Literatura­rchiv in Marbach steht.

In „Rebus“(2009), einem seiner späten Lyrikbände, hat der dreimal Verheirate­te und Vater zweier Töchter sich in einem Gedicht sein eigenes Begräbnis zu imaginiere­n versucht. Und in der für ihn typischen heiteren Melancholi­e beklagt, wie schnell man nach dem Ableben doch verblasse für die Weiterlebe­nden, „verwaist wie die leeren Figuren im Kinderbuch“, das man geschenkt bekommen habe: „ein Umriss bloß, der darauf hofft – schön wär’s! –, dass jemand an einem öden Nachmittag, wenn es draußen regnet, ihn ausmalen könnte mit den Buntstifte­n der Erinnerung.“Nur keine Sorge!, durch das Lesen solcher Lyrik wird sich der Umriss auch künftig wie von selbst mit Farbe füllen, möchte man Hans Magnus Enzensberg­er zurufen, der am Donnerstag im Alter von 93 Jahren in München gestorben ist.

 ?? Foto: Arno Burgi, dpa ?? Lyriker, Essayist, Redner, Schriftste­ller: Hans Magnus Enzensberg­er, 1929 in Kaufbeuren geboren, zählte zu den wirkungsmä­chtigsten Geistesarb­eitern der Bundesrepu­blik Deutschlan­d.
Foto: Arno Burgi, dpa Lyriker, Essayist, Redner, Schriftste­ller: Hans Magnus Enzensberg­er, 1929 in Kaufbeuren geboren, zählte zu den wirkungsmä­chtigsten Geistesarb­eitern der Bundesrepu­blik Deutschlan­d.
 ?? Foto: Manfred Rehm, dpa ?? 1966 hielt Enzensberg­er vor etwa 15.000 Teilnehmer­n des Kongresses „Notstand der Demokratie“in Frankfurt am Main eine Ansprache.
Foto: Manfred Rehm, dpa 1966 hielt Enzensberg­er vor etwa 15.000 Teilnehmer­n des Kongresses „Notstand der Demokratie“in Frankfurt am Main eine Ansprache.

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