Wieder ein Drama
Brasiliens Superstar Neymar muss während des Spiels gegen Serbien verletzt ausgewechselt werden. In seiner Heimat war die Angst groß, dass die WM für ihn schon beendet sein könnte. Dabei ist er längst nicht mehr unersetzbar.
Doha Die Inszenierung ist Teil seines Tuns. Auch wenn sein Haar derzeit fast auffällig unauffällig frisiert ist, trug Neymar goldene Kopfhörer beim Abgang aus dem Lusail Stadium. Dazu ist der Goldpokal als Bildschirm-Hintergrund auf seinem Handy hinterlegt, was ja ein schönes Motiv ist, wenn eine Weltmeisterschaft läuft, bei der Brasilien den sechsten Titel herbeisehnt. Welche Rolle der 30-Jährige bei der Mission in Katar spielt, nachdem im goldfarben schimmernden Endspielstadion zum Auftakt ein 2:0-Sieg gegen Serbien gelungen war, ist jedoch nicht so ganz klar.
Nationaltrainer Tite lud gleich einige Schuld auf sich, dass er vom Spielfeldrand nicht sah, was die mehr als 88.000 Augenzeugen vor Ort ohnehin im Detail kaum erkennen konnten: Wie sich Neymar bei einem der vielen Fouls des serbischen Abwehrrüpels Nikola Milenkovic so böse den Fuß einklemmte, dass Standbilder das Schlimmste vermuten ließen. Elf Minuten spielte die Nummer zehn noch weiter, ehe es nicht mehr ging. „Es ist bewundernswert, dass er so lange noch weitergemacht hat“, sagte Tite, der Spekulationen über ein vorzeitiges WM-Aus seiner prominenten Schlüsselfigur abwendete. „Wir sind zuversichtlich, dass er bei dieser WM weiterspielen kann“, sagte der 61-Jährige.
Weit nach Mitternacht kletterte auch Teamarzt Rodrigo Lasmar vorsorglich mit aufs Podium der Pressekonferenz. Mit ruhiger Stimme
berichtete der 46-Jährige von einer Verstauchung. Kein Knöchelbruch. Wegen der Schwellung müsse man „24 oder 48 Stunden
warten“, meinte der Mediziner, erst dann sei eine genauere Diagnose möglich. Am Freitag gab der Verband bekannt, dass Neymar eine Bänderverletzung am rechten Sprunggelenk hat und auf jeden Fall die Partie am Montag gegen die Schweiz verpassen wird.
In der Nacht zuvor war die Stilikone zwar ohne Krücken zum Bus gelangt, dennoch erinnerte einiges an den Ablauf vom 4. Juli 2014. WM-Viertelfinale Brasilien gegen Kolumbien. Es war ein erbitterter Abnutzungskampf in Fortaleza, als der Kolumbianer Juan Camilo Zúñiga sein Knie in den Rücken des brasilianischen Idols rammte. Neymar, damals noch Anker eines Landes, weil er sich nicht vor politische Karren spannen ließ, musste aus dem Stadion getragen worden. Es folgten Standleitungen, Liveschalten und Expertengespräche, ehe die Nachricht vom Wirbelbruch die Runde machte. Eine Tragödie der Heim-WM.
Den Schock schüttelte die Seleção bis zum Halbfinale gegen Deutschland nicht ab. 1:7. Trauma bis heute. Auch jetzt verbreiteten sich die Aufnahmen von dem dick geschwollenen Knöchel in Windeseile; viele brasilianische Fans, die auf den Rolltreppen zur überfüllten Metrostation so fröhlich gesungen hatten, drehten sich beim Anblick entsetzt weg. Nicht schon wieder. Und warum Neymar? Der doch 2018 nach einem Mittelfußbruch vor der WM auch schon so lange im Krankenstand verbrachte und nun diesen Sommer in seiner Strandvilla in Mangaratiba im Bundesstaat Rio de Janeiro dazu nutzte, um mit einem Privat-Coach an seiner Fitness zu arbeiten. Diese WM soll seine Bühne werden. Schließlich speist sich sein fürstliches Gehalt bei Paris St. Germain aus einem katarischen Staatsfonds.
Die Voraussetzungen für reiche Beute mit dem Nationalteam scheinen günstig. Neymar hat hinter den Spitzen Vinícius Júnior, Raphinha und Richarlison einen Platz bekommen, der ihm Freiheiten lässt, aber die Alleinverantwortung nimmt. Neymar ist nicht mehr unersetzlich. In der zweiten Halbzeit war das gut zu sehen, als neben dem pfeilschnellen Vinicius Junior natürlich Doppeltorschütze Richarlison die Lorbeeren erntete. Sein 2:0 wird in jedem WM-Rückblick auftauchen: Nachdem der 25-Jährige erst den Ball hoch nahm, um ihn dann mit einem Seitfallzieher in die Maschen zu schmettern.
„Ein wunderschönes Tor, akrobatisch – wahrscheinlich eines der schönsten meiner Karriere und auch des Turniers“, lobte sich der Angreifer von Tottenham Hotspur, der in der Premier League noch auf den ersten Saisontreffer wartet. Der blondierte Matchwinner lächelte auch die Besorgnis um Neymar weg. „Er soll Eis rauftun, damit wir ihn bald wieder bei 100 Prozent haben.“Wirklich besorgt klang er nicht. Notfalls geht’s auch mal ohne Neymar.