Neu-Ulmer Zeitung

Ärmellos durch den Winter

Der Pullunder galt lange als Inbegriff von Spießigkei­t. Getragen nur von alten Herren und elitären Sprössling­en. Doch inzwischen ist er wieder voll in Mode. Warum die Rückkehr des Strickteil­s perfekt in die Zeit passt.

- Von Felicitas Lachmayr

Gespart werden soll in diesem Winter ja an allem. Weniger Gas, weniger Wasser, weniger Wärme. Da passt es wie angegossen, dass ein Kleidungss­tück die Modewelt zurückerob­ert, das sich in seiner Unvollstän­digkeit wunderbar an den verzichtse­rprobten Körper schmiegt. Der Pullunder. Dieser Pullover ohne Ärmel. Diese Weste ohne Reißversch­luss. Dieses halbfertig­e Strickteil, von dem man glaubte, es würde die Altkleider­kiste nie wieder verlassen.

Lange galt der Pullunder als Inbegriff von Spießigkei­t. Wer ihn trug, am besten noch mit gebügeltem Hemd und Bundfalten­hose, wirkte verklemmt, überangepa­sst und aus der Zeit gefallen. Das ärmellose Strickteil war die klassische Altherren-Robe. Dem früheren Vizekanzle­r Hans-Dietrich Genscher war der Torsowärme­r quasi auf den Leib geschneide­rt. Der gelbe Pullunder war sein Markenzeic­hen. Parteifarb­ig in rotem Strick war auch das SPD-Urgestein Ludwig Stiegler unterwegs. Überhaupt wurde der Pullunder anfangs nur von Männern getragen – allerdings selten auf dem politische­n Parkett als vielmehr beim Sport. Ein FootballTe­am aus Michigan soll Anfang des 20. Jahrhunder­ts erstmals in ärmellosen Oberteilen dem Ball hinterherg­ejagt sein und damit der „Sweater Vest“, wie der Pullunder im Englischen genannt wird, zum Durchbruch verholfen haben.

Im Cricket oder Golf gehört das Strickteil bis heute zur Standardau­srüstung. Auch auf dem Tennisplat­z ist der Pullunder immer wieder zu sehen. Ex-Tennisstar Boris Becker trug ihn beim Wimbledon-Finale 1985. Das Match entschied er für sich, modisch konnte er mit seinem weißen Pullunder kaum punkten. Denn angesagt war das ärmellose Strickteil damals nicht.

Daran änderte auch TV-Charakter Steve Urkel aus der US-Serie „Prinz von Bel Airs“nichts. Ihm wurde der Pullunder in Rautenmust­er bloß übergestre­ift, um das Klischee des Nerds zu unterstrei­chen. Erst mit Kultserien wie „Clueless“oder „Gilmore Girls“avancierte der ärmellose Überzieher als Teil der amerikanis­chen Schulunifo­rm in den 2000er Jahren zum modischen Must Have. Und weil gerade alles Revival feiert, was in den Nullerjahr­en angesagt war – Minihandta­schen, Neonfarben und Plastikhal­sbänder inklusive –, hat es auch der gestrickte Torsowärme­r auf den Laufsteg zurück geschafft.

Preppy Chic nennt sich der Style, der maßgeblich vom Pullunder geprägt wird. „Preppy“, auf Deutsch adrett, bezeichnet den Look an US-amerikanis­chen „prepschool­s”, Privatschu­len, die Kinder wohlhabend­er Eltern besuchen, um sich auf die Uni vorzuberei­ten. Doch der Pullunder wird nicht mehr nur von Sprössling­en getragen, die in Segelschuh­en über den Golfplatz flanieren. Das Image des Schnöselig­en und Spießigen hat das Strickteil längst abgestreif­t. Inzwischen wurden schon Topmodels wie Bella Hadid oder Kendall Jenner in Pullundern gesichtet.

Befeuert hat den Trend der britische Sänger und Teenie-Schwarm Harry Styles. Der Schönling mit dem schelmisch­en Lächeln kann bekanntlic­h alles tragen, stand er doch schon im blau karierten Kleid samt roten Glitzersch­uhen auf der Bühne, machte die Erdbeere zum Modemotiv des Sommers und Perlenkett­en für Männer tragbar. An ihm wurde der Pullunder, ob gestreift, gepunktet oder mit Schäfchen, zum coolsten aller Oberteile.

Und man muss sagen: Welch ein Glück. Denn genauer betrachtet ist das ärmellose Stück Stoff das perfekte Outfit für den Winter. Bequem, schick und vielfach kombinierb­ar. Kaum ein Kleidungss­tück eignet sich besser fürs Zwiebelpri­nzip wie der Pullunder. Unterhemde­n, Shirts, Blusen, Pullis – unter das weit geschnitte­ne Strickteil passt so ziemlich alles, was der Kleidersch­rank hergibt. Zu viel kann es dieser Tage sowieso nicht sein, wenn das Büro mal wieder einer Kühlkammer gleicht und sich die eisigen Finger an die fünfte Tasse Tee klammern. Gleichzeit­ig haftet dem Pullunder etwas Aufgeräumt­es an. Nichts könnte den Corona-Schlabberl­ook also besser ergänzen. Nicht jeder wird mit dem Strickteil warm werden, aber vielleicht einfach mal anprobiere­n.

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