Die verlorene Leichtigkeit
Deutschland gegen Spanien – ein solches Fußballspiel hätte das Zeug zum Straßenfeger. Nicht bei dieser Weltmeisterschaft. Über einen Sport, der schrecklich kompliziert geworden ist, einen Wirt ohne Wahl und den Moment, in dem das WM-Fieber doch noch ausbr
Augsburg Unter normalen Umständen wäre jetzt Ausnahmezustand. Jetzt, das ist Sonntagabend, kurz vor dem großen Spiel. Die Augsburger Innenstadt wäre eine Fanmeile, wahrscheinlich wäre am Rathausplatz eine große Leinwand aufgestellt, auf der das Schicksalsspiel der deutschen Mannschaft gegen Spanien gezeigt wird. Die Uhrzeit, die Konstellation, alles hätte das Zeug zum Fußball-Fest – unter normalen Umständen. Es ist aber wenig normal bei dieser Fußball-WM, die im Winter 2022 aus Katar nach Deutschland übertragen wird. Und das beginnt schon damit, dass es viel zu kalt ist an diesem nebligen Sonntagabend. Das Thermometer zeigt nur wenige Grade über dem Gefrierpunkt. Auf dem Augsburger Rathausplatz findet erstmals nach zwei Jahren der Christkindlesmarkt statt, ansonsten herrscht in der Innenstadt der gedämpfte SonntagabendBetrieb. Ein Public Viewing wollte die Stadt nicht veranstalten. Auch in Köln, Dortmund, Düsseldorf, Nürnberg, München, Stuttgart, Dresden und Berlin verzichten Veranstalter auf große Übertragungen.
Trotzdem steht es jedem Restaurant und jeder Kneipe offen, das Spiel zu übertragen. Aber wozu? Schließlich müssen auch Gastronomen für die Übertragungen zahlen. Und der große Run auf die Spiele dieser WM bleibt bislang aus, die TV-Quoten haben sich halbiert. Das passt zu einer Umfrage von Infratest Dimap vor dem Turnier, wonach 56 Prozent der Befragten in Deutschland angaben, sich kein einziges Spiel der wegen Menschenrechtsverletzungen und Korruptionsvorwürfen in der Kritik stehenden Katar-WM ansehen zu wollen. Bei den Spielen der deutschen Mannschaft haben 2018 noch durchschnittlich 25 Millionen Menschen zugesehen. Das erste Spiel gegen Japan kam am Mittwochnachmittag auf eine Quote von knapp zehn Millionen.
Und doch: Ganz kleingekriegt hat selbst dieses Turnier die Fußball-Begeisterung nicht. Gegen Spanien schalteten 17 Millionen Menschen ein. Und auch in Augsburg gibt es Orte, an denen vieles so wie immer scheint. Einer dieser Orte ist die Fußballkneipe 11er in der Dominikanergasse, die die bekannteste Anlaufstelle für Fußballfans
in der Stadt ist. Um halb acht sind bereits alle Sitzplätze besetzt, weshalb sich viele im Stehen ein Bier gönnen. Einer, der noch einen Platz an einem Tisch ergattert hat, ist Billy Stover. Er ist zusammen mit einem Kumpel da. Ob er Probleme damit hat, sich die Spiele anzusehen? „WM ist WM“, sagt der 35-Jährige. „Ich finde es immer schwierig, wenn sich Sport und Politik vermischen.“Natürlich hätte man die WM niemals in dieses Land vergeben dürfen, von einem Boykott hält er aber nichts – und freut sich stattdessen über die Stimmung in der Fußballkneipe. „Das ist einfach geil hier.“
Tatsächlich fühlt es sich zwischenzeitlich so an, als ob es ein ganz normales WMSpiel ist, das auf den Bildschirmen im 11er zu sehen ist. Die rund 100 Männer und Frauen bejubeln Manuel Neuer nach dessen Rettungstat gegen Dani Olmo, leiden mit I˙ lkay Gündoan und Serge Gnabry nach deren vergebenen Großchancen. Ist jetzt also doch wieder alles toll, sobald der Ball rollt? Nein – sagt der Chef der Kneipe. Markus Krapf hat den 11er im Jahr 2007 eröffnet und ist nicht nur deswegen eines der bekanntesten Fußball-Gesichter der Stadt. Der 50-Jährige ist seit einigen Monaten Präsident des FC Augsburg, für den er auch schon als Geschäftsführer und Pressechef gearbeitet hat. Er sagt: „Es ist eben nicht alles toll, auch jetzt nicht. Diese WM ist ein Fußball-Fest, das den Fans gestohlen worden ist. Und man sollte nicht müde werden zu betonen, auf welche Weise Katar diese WM bekommen hat.“
Dass er die Spiele der deutschen Nationalmannschaft dennoch zeigt, hat finanzielle Gründe. „Das Konzept meiner Sportkneipe ist es, dass alle zwei Jahre ein großes Turnier die Sommerpause überbrückt.“Finanziell ist ein WM-Turnier also fest in der Kalkulation der Kneipe eingerechnet. In einer Stellungnahme, die auf den Social-Media-Kanälen des 11er vor Turnierbeginn zu lesen war, betonte Krapf, dass die Entscheidung nur deswegen gefallen sei, „weil uns wirtschaftliche Zwänge keine andere Wahl lassen“. Zugleich sei es „eine Katastrophe, was die Sportverbände mit dieser Entscheidung angerichtet haben und dadurch viele andere in die Bredouille bringen. Das ist aber nichts gegen das Leid, das die unterdrückten Menschen in besagten Ländern zu ertragen haben. Von den Tausenden von Toten ganz zu schweigen.“Die Möglichkeit, den 11er während der WM dennoch zuzusperren, habe es gegeben, so Krapf: „Jemand war bereit, mir den Umsatz während des gesamten Turniers zu zahlen, wenn ich nichts zeige. Das hätte sich aber erst recht nach Zensur angefühlt. Ich möchte mir meine freie Entscheidung nicht verbieten lassen. Und am Ende hätte sich das falsch angefühlt.“
Wie aber soll mit der WM umgegangen werden? Autor Dietrich Schulze-Marmeling, der mit seiner bundesweiten Aktion „Boycott Qatar“einer der Vorreiter des Protestes ist, hält nichts davon, sich den Spielen komplett zu verschließen: „Ich finde es wichtig, dass Medien kritisch berichten und dass Zuschauer kritisch bleiben gegenüber vielem, was in diesem Gastgeberland und der Fifa passiert.“Stattdessen könne es kreative Formen des Protests geben: ein alternatives Turnier, Lesungen, Podiumsdiskussionen. In Augsburg etwa hat sich ein Gegenprogramm gebildet, das unter dem Schlagwort „Augsburg statt Katar“gebündelt wird. 15 Programmpunkte von der Fußball-Ausstellung bis zum Pub-Quiz gibt es. So zeigte das Fanprojekt des FC Augsburg zeitgleich zum Eröffnungsspiel zwischen Katar und Ecuador die Partie, in der der FCA im Sommer 2011 in die Bundesliga aufstieg. Der
FC Augsburg ruft unter dem Motto „Regionalliga statt WM: Auf zur Zwoten“dazu auf, die Spiele der zweiten Mannschaft zu besuchen. Knapp 1000 Leute sahen sich im Rosenaustadion das 4:2 des FCA gegen Schweinfurt an, während in Katar die Vorrundenspiele liefen. Für gewöhnlich kommen sonst etwa 300 Fans.
Und auch am Abend vor dem Spanienspiel sollte diskutiert statt gejubelt werden. Die SPD Augsburg hatte unter dem Motto „Moral unterm Flutlicht“zu einer Podiumsdiskussion eingeladen. Gäste aus Politik und Sport sprachen darüber, wie es denn weitergehen soll mit dieser WM, dieser Fifa. Also eigentlich ja mit diesem Fußball, den man doch eigentlich liebt, der leicht sein und ablenken soll von den Hiobsbotschaften der Weltpolitik. Dieser Fußball eben, der so bleiern schwer erscheint in diesen Tagen. 20 Leute waren gekommen und hörten zu, wie die Diskutanten auch keine wirklich optimistische Prognose abgeben konnten.
Der Streit des DFB mit der Fifa, in der es um die „One Love“-Kapitänsbinde geht, die ja wiederum die blutleere Version der Regenbogenbinde ist, und das Einknicken des deutschen Verbandes, hatten für Entsetzen und Fassungslosigkeit gesorgt. Der Handelsriese Rewe wandte sich vom bisherigen Sponsoringpartner DFB ab und verzichtet seither auf die Werberechte. Andere Unternehmen wie die Telekom oder
Adidas gaben sich zurückhaltender, aber auch kritisch. Und Fanvertreterinnen und -vertreter waren regelrecht entsetzt ob des Verhaltens des Deutschen Fußball-Bundes, dessen Präsident Bernd Neuendorf zu Beginn der WM deutliche Worte in Richtung des Fifa-Präsidenten Gianni Infantino gerichtet hatte. Wie schnell den DFB der Mut verlässt, war angesichts des Streits um ein minimales politisches Zeichen zu sehen. Dario Minden, der stellvertretende Vorsitzende der Fan-Dachorganisation „Unsere Kurve“hatte direkt nach der Entscheidung gemutmaßt: „Ich glaube, die DFB-Spitze begreift noch gar nicht, was der Rückzieher bedeutet.“
Es ist alles so schrecklich kompliziert geworden mit dem Fußball. Nur der Fußball selbst scheint, wenn ein Spiel dann mal läuft, recht simpel zu sein. So zu sehen ist das beim Duell der deutschen gegen die spanische Elf. Nach einem packenden Spiel, zwei Toren und einem Punkt lebt jedenfalls die Chance der DFB-Auswahl auf ein Weiterkommen weiter. Im 11er wird nach Schlusspfiff gezahlt. Alain Panier packt seine Schweiz-Fahne zusammen. Auch er hat sich die Partie in der Kneipe angesehen, der Liebe wegen pendelt er zwischen seinem Heimatort Zürich und Augsburg. Der 55-Jährige ist ehemaliger Profi, war Kapitän des FC Zürich und spielte mit Urs Fischer, dem aktuellen Trainer von Union Berlin, zusammen. Leute, die einen WM-Boykott fordern, gibt es in seiner Heimatstadt auch. Panier versteht deren Standpunkt, sagt aber aus der Perspektive eines Ex-Kickers: „Das ist doch auch ein Höhepunkt für die Spieler. Es ist eine WM, die meisten werden nur ein solches Turnier spielen. Trotz allem ist es in erster Linie Fußball.“
Was von dem Abend bleibt, sind kurze Momente, in denen sich dieses Turnier wie eine normale WM angefühlt hat: Es gibt das Zittern, das Hoffen, das Ärgern, das Jubeln, das ganze Leben im 90-minütigen Schnelldurchlauf. Am Ende wird bei der ZDF-Übertragung ein Tweet vorgelesen, der sinnbildlich für dieses Spiel sein könnte: „Vielleicht, weil ich das erste Spiel bei dieser WM ganz gesehen habe. Vielleicht, weil das Tor von Füllkrug geil war. Vielleicht, weil der Nachbar so laut TOOOOR geschrien hat, dass die dreimonatige Tochter aufgewacht ist. Jedenfalls habe ich das erste Mal diese WM gefühlt.“
1000 Fans in Augsburg schauen lieber Regionalliga als Weltmeisterschaft