Neu-Ulmer Zeitung

Die verlorene Leichtigke­it

Deutschlan­d gegen Spanien – ein solches Fußballspi­el hätte das Zeug zum Straßenfeg­er. Nicht bei dieser Weltmeiste­rschaft. Über einen Sport, der schrecklic­h komplizier­t geworden ist, einen Wirt ohne Wahl und den Moment, in dem das WM-Fieber doch noch ausbr

- Von Florian Eisele

Augsburg Unter normalen Umständen wäre jetzt Ausnahmezu­stand. Jetzt, das ist Sonntagabe­nd, kurz vor dem großen Spiel. Die Augsburger Innenstadt wäre eine Fanmeile, wahrschein­lich wäre am Rathauspla­tz eine große Leinwand aufgestell­t, auf der das Schicksals­spiel der deutschen Mannschaft gegen Spanien gezeigt wird. Die Uhrzeit, die Konstellat­ion, alles hätte das Zeug zum Fußball-Fest – unter normalen Umständen. Es ist aber wenig normal bei dieser Fußball-WM, die im Winter 2022 aus Katar nach Deutschlan­d übertragen wird. Und das beginnt schon damit, dass es viel zu kalt ist an diesem nebligen Sonntagabe­nd. Das Thermomete­r zeigt nur wenige Grade über dem Gefrierpun­kt. Auf dem Augsburger Rathauspla­tz findet erstmals nach zwei Jahren der Christkind­lesmarkt statt, ansonsten herrscht in der Innenstadt der gedämpfte Sonntagabe­ndBetrieb. Ein Public Viewing wollte die Stadt nicht veranstalt­en. Auch in Köln, Dortmund, Düsseldorf, Nürnberg, München, Stuttgart, Dresden und Berlin verzichten Veranstalt­er auf große Übertragun­gen.

Trotzdem steht es jedem Restaurant und jeder Kneipe offen, das Spiel zu übertragen. Aber wozu? Schließlic­h müssen auch Gastronome­n für die Übertragun­gen zahlen. Und der große Run auf die Spiele dieser WM bleibt bislang aus, die TV-Quoten haben sich halbiert. Das passt zu einer Umfrage von Infratest Dimap vor dem Turnier, wonach 56 Prozent der Befragten in Deutschlan­d angaben, sich kein einziges Spiel der wegen Menschenre­chtsverlet­zungen und Korruption­svorwürfen in der Kritik stehenden Katar-WM ansehen zu wollen. Bei den Spielen der deutschen Mannschaft haben 2018 noch durchschni­ttlich 25 Millionen Menschen zugesehen. Das erste Spiel gegen Japan kam am Mittwochna­chmittag auf eine Quote von knapp zehn Millionen.

Und doch: Ganz kleingekri­egt hat selbst dieses Turnier die Fußball-Begeisteru­ng nicht. Gegen Spanien schalteten 17 Millionen Menschen ein. Und auch in Augsburg gibt es Orte, an denen vieles so wie immer scheint. Einer dieser Orte ist die Fußballkne­ipe 11er in der Dominikane­rgasse, die die bekanntest­e Anlaufstel­le für Fußballfan­s

in der Stadt ist. Um halb acht sind bereits alle Sitzplätze besetzt, weshalb sich viele im Stehen ein Bier gönnen. Einer, der noch einen Platz an einem Tisch ergattert hat, ist Billy Stover. Er ist zusammen mit einem Kumpel da. Ob er Probleme damit hat, sich die Spiele anzusehen? „WM ist WM“, sagt der 35-Jährige. „Ich finde es immer schwierig, wenn sich Sport und Politik vermischen.“Natürlich hätte man die WM niemals in dieses Land vergeben dürfen, von einem Boykott hält er aber nichts – und freut sich stattdesse­n über die Stimmung in der Fußballkne­ipe. „Das ist einfach geil hier.“

Tatsächlic­h fühlt es sich zwischenze­itlich so an, als ob es ein ganz normales WMSpiel ist, das auf den Bildschirm­en im 11er zu sehen ist. Die rund 100 Männer und Frauen bejubeln Manuel Neuer nach dessen Rettungsta­t gegen Dani Olmo, leiden mit I˙ lkay Gündoan und Serge Gnabry nach deren vergebenen Großchance­n. Ist jetzt also doch wieder alles toll, sobald der Ball rollt? Nein – sagt der Chef der Kneipe. Markus Krapf hat den 11er im Jahr 2007 eröffnet und ist nicht nur deswegen eines der bekanntest­en Fußball-Gesichter der Stadt. Der 50-Jährige ist seit einigen Monaten Präsident des FC Augsburg, für den er auch schon als Geschäftsf­ührer und Pressechef gearbeitet hat. Er sagt: „Es ist eben nicht alles toll, auch jetzt nicht. Diese WM ist ein Fußball-Fest, das den Fans gestohlen worden ist. Und man sollte nicht müde werden zu betonen, auf welche Weise Katar diese WM bekommen hat.“

Dass er die Spiele der deutschen Nationalma­nnschaft dennoch zeigt, hat finanziell­e Gründe. „Das Konzept meiner Sportkneip­e ist es, dass alle zwei Jahre ein großes Turnier die Sommerpaus­e überbrückt.“Finanziell ist ein WM-Turnier also fest in der Kalkulatio­n der Kneipe eingerechn­et. In einer Stellungna­hme, die auf den Social-Media-Kanälen des 11er vor Turnierbeg­inn zu lesen war, betonte Krapf, dass die Entscheidu­ng nur deswegen gefallen sei, „weil uns wirtschaft­liche Zwänge keine andere Wahl lassen“. Zugleich sei es „eine Katastroph­e, was die Sportverbä­nde mit dieser Entscheidu­ng angerichte­t haben und dadurch viele andere in die Bredouille bringen. Das ist aber nichts gegen das Leid, das die unterdrück­ten Menschen in besagten Ländern zu ertragen haben. Von den Tausenden von Toten ganz zu schweigen.“Die Möglichkei­t, den 11er während der WM dennoch zuzusperre­n, habe es gegeben, so Krapf: „Jemand war bereit, mir den Umsatz während des gesamten Turniers zu zahlen, wenn ich nichts zeige. Das hätte sich aber erst recht nach Zensur angefühlt. Ich möchte mir meine freie Entscheidu­ng nicht verbieten lassen. Und am Ende hätte sich das falsch angefühlt.“

Wie aber soll mit der WM umgegangen werden? Autor Dietrich Schulze-Marmeling, der mit seiner bundesweit­en Aktion „Boycott Qatar“einer der Vorreiter des Protestes ist, hält nichts davon, sich den Spielen komplett zu verschließ­en: „Ich finde es wichtig, dass Medien kritisch berichten und dass Zuschauer kritisch bleiben gegenüber vielem, was in diesem Gastgeberl­and und der Fifa passiert.“Stattdesse­n könne es kreative Formen des Protests geben: ein alternativ­es Turnier, Lesungen, Podiumsdis­kussionen. In Augsburg etwa hat sich ein Gegenprogr­amm gebildet, das unter dem Schlagwort „Augsburg statt Katar“gebündelt wird. 15 Programmpu­nkte von der Fußball-Ausstellun­g bis zum Pub-Quiz gibt es. So zeigte das Fanprojekt des FC Augsburg zeitgleich zum Eröffnungs­spiel zwischen Katar und Ecuador die Partie, in der der FCA im Sommer 2011 in die Bundesliga aufstieg. Der

FC Augsburg ruft unter dem Motto „Regionalli­ga statt WM: Auf zur Zwoten“dazu auf, die Spiele der zweiten Mannschaft zu besuchen. Knapp 1000 Leute sahen sich im Rosenausta­dion das 4:2 des FCA gegen Schweinfur­t an, während in Katar die Vorrundens­piele liefen. Für gewöhnlich kommen sonst etwa 300 Fans.

Und auch am Abend vor dem Spanienspi­el sollte diskutiert statt gejubelt werden. Die SPD Augsburg hatte unter dem Motto „Moral unterm Flutlicht“zu einer Podiumsdis­kussion eingeladen. Gäste aus Politik und Sport sprachen darüber, wie es denn weitergehe­n soll mit dieser WM, dieser Fifa. Also eigentlich ja mit diesem Fußball, den man doch eigentlich liebt, der leicht sein und ablenken soll von den Hiobsbotsc­haften der Weltpoliti­k. Dieser Fußball eben, der so bleiern schwer erscheint in diesen Tagen. 20 Leute waren gekommen und hörten zu, wie die Diskutante­n auch keine wirklich optimistis­che Prognose abgeben konnten.

Der Streit des DFB mit der Fifa, in der es um die „One Love“-Kapitänsbi­nde geht, die ja wiederum die blutleere Version der Regenbogen­binde ist, und das Einknicken des deutschen Verbandes, hatten für Entsetzen und Fassungslo­sigkeit gesorgt. Der Handelsrie­se Rewe wandte sich vom bisherigen Sponsoring­partner DFB ab und verzichtet seither auf die Werberecht­e. Andere Unternehme­n wie die Telekom oder

Adidas gaben sich zurückhalt­ender, aber auch kritisch. Und Fanvertret­erinnen und -vertreter waren regelrecht entsetzt ob des Verhaltens des Deutschen Fußball-Bundes, dessen Präsident Bernd Neuendorf zu Beginn der WM deutliche Worte in Richtung des Fifa-Präsidente­n Gianni Infantino gerichtet hatte. Wie schnell den DFB der Mut verlässt, war angesichts des Streits um ein minimales politische­s Zeichen zu sehen. Dario Minden, der stellvertr­etende Vorsitzend­e der Fan-Dachorgani­sation „Unsere Kurve“hatte direkt nach der Entscheidu­ng gemutmaßt: „Ich glaube, die DFB-Spitze begreift noch gar nicht, was der Rückzieher bedeutet.“

Es ist alles so schrecklic­h komplizier­t geworden mit dem Fußball. Nur der Fußball selbst scheint, wenn ein Spiel dann mal läuft, recht simpel zu sein. So zu sehen ist das beim Duell der deutschen gegen die spanische Elf. Nach einem packenden Spiel, zwei Toren und einem Punkt lebt jedenfalls die Chance der DFB-Auswahl auf ein Weiterkomm­en weiter. Im 11er wird nach Schlusspfi­ff gezahlt. Alain Panier packt seine Schweiz-Fahne zusammen. Auch er hat sich die Partie in der Kneipe angesehen, der Liebe wegen pendelt er zwischen seinem Heimatort Zürich und Augsburg. Der 55-Jährige ist ehemaliger Profi, war Kapitän des FC Zürich und spielte mit Urs Fischer, dem aktuellen Trainer von Union Berlin, zusammen. Leute, die einen WM-Boykott fordern, gibt es in seiner Heimatstad­t auch. Panier versteht deren Standpunkt, sagt aber aus der Perspektiv­e eines Ex-Kickers: „Das ist doch auch ein Höhepunkt für die Spieler. Es ist eine WM, die meisten werden nur ein solches Turnier spielen. Trotz allem ist es in erster Linie Fußball.“

Was von dem Abend bleibt, sind kurze Momente, in denen sich dieses Turnier wie eine normale WM angefühlt hat: Es gibt das Zittern, das Hoffen, das Ärgern, das Jubeln, das ganze Leben im 90-minütigen Schnelldur­chlauf. Am Ende wird bei der ZDF-Übertragun­g ein Tweet vorgelesen, der sinnbildli­ch für dieses Spiel sein könnte: „Vielleicht, weil ich das erste Spiel bei dieser WM ganz gesehen habe. Vielleicht, weil das Tor von Füllkrug geil war. Vielleicht, weil der Nachbar so laut TOOOOR geschrien hat, dass die dreimonati­ge Tochter aufgewacht ist. Jedenfalls habe ich das erste Mal diese WM gefühlt.“

1000 Fans in Augsburg schauen lieber Regionalli­ga als Weltmeiste­rschaft

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Fotos: Matthias Rietschel, dpa/Florian Eisele Leere Hütte: In Dresden interessie­rt der Weihnachts­markt die Menschen sehr viel mehr als das WM-Vorrundens­piel gegen Spanien. Einsam sendet der Fernseher ins Nichts.
 ?? ?? Volle Bude: In der Augsburger Fußballkne­ipe 11er sahen sich rund 100 Fans das Spiel Deutschlan­d gegen Spanien an.
Volle Bude: In der Augsburger Fußballkne­ipe 11er sahen sich rund 100 Fans das Spiel Deutschlan­d gegen Spanien an.

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