Und am Gipfel eine Meeresbrise
Flache Rücken, steile Hänge und zugefrorene Seen: Wer unweit des Polarkreises in Norwegen Skier unter die Füße schnallt, dem bieten sich traumhafte Routen in einer gewaltigen Landschaft. Warum Angler dort Wetterboten sind.
Weiß, weiß, überall weiß. Dazwischen ein paar Steine, die der starke Wind vom Schnee befreit hat. Ein Weg zum Gipfel ist nicht zu erkennen. Zu stark der Schneesturm, zu schlecht die Sicht. Die ganze Nacht über hat es geschneit. Ein Ende? Nicht zu erkennen. Am Morgen waren keine Fischerboote auf dem Meer zu sehen, selbst für die hart gesottenen Angler war es auf Norwegens zweitgrößter Insel Senja zu stürmisch, um zu fischen. Für eine Gruppe Skitourengeher tut das nichts zur Sache. Sie sind in den hohen Norden gereist, um zehn Tage lang den Traum des Skitourengehens zu suchen: Hänge voller Schnee, Aufstiegsrouten, die auf Meereshöhe starten und Gipfel, von denen sich die endlose Weite der Fjorde betrachten lässt. Und sie haben noch ein bescheidenes Detail mehr gefunden: die Einsamkeit unweit des Polarkreises.
Der Pferderücken
Der Pulverschnee ist am ersten Tourentag noch so hoch, dass man ohne Ski bis zu den Knien einsinkt. Das Wetter weiter stürmisch, die Flocken fallen dick vom wolkenbedeckten Himmel. Was den Sportlern bei stürmischen Bedingungen beim Aufstieg hilft, ist ein guter Instinkt für den Berg, das Kartenmaterial auf dem Handy – und dicke Handschuhe. Zwar hat es beim Weg auf den „Store Hesten“(Großes Pferd) nur wenige Minusgrade. Der Wind allerdings, der in das schneebedeckte Kar weht, rüttelt so fest an der Kapuze, dass die Wangen brennen.
Noch während des Aufstiegs ändert sich abrupt das Wetter. Typisch für Norwegen. Für einige Minuten wird das Ziel gut erkennbar. Ein spitzer Gipfel, der auf der nördlichen Seite flach nach oben ragt und im Süden steil in den Abgrund in Richtung Meer drängt. Die Linie des Großen Pferdes, der Rücken des Berges, macht es den Skitourengehern relativ einfach, den letzten Anstieg nach oben zu finden. Vom Gipfel erhascht man in jede Richtung eine atemberaubende Aussicht. Tiefblaues Meer, schneeverhangene Bergspitzen und die nächstgelegenen Fjorde. Die Meeresbrise, die nach oben weht, ist frisch. Das fällt bei diesem Anblick aber kaum ins Gewicht. Gut erkennbar sind am Gipfel auch die Fangnetze der Fischzüchter. Von Booten ist weiter nichts zu sehen.
Auf gut 874 Metern macht sich die Gruppe eilig ans Werk. Felle runter, Abfahrtsmodus an. Die Sicht lässt erneut nach, jeder Schwung geht beim Abfahren durch den weichen Schnee ins Nichts. Jetzt offenbart sich, was beim Aufstieg kaum bemerkt wurde. Die Route führte über einen zugefrorenen See.
Im Birkenwald lockert es dann auf – der Schnee wird zum puren Genuss. Slalom zwischen den Bäumen. Unten angekommen ist das Grinsen in den erleichterten Gesichtern recht breit. Wohl auch wegen der Aussicht auf die skandinavisch übliche Entspannung. Denn im angemieteten Ferienhaus im kleinen Örtchen Laukvik wartet schon die Sauna – mitgebrachter Allgäuer Kräutergeruch entspannt die ohnehin noch fitten Beine. Das eiskalte Meer tut das auch. Und muss es wohl, auf die Gruppe warten weitere acht Tage auf Skiern.
Der Reiz
In Norwegens Norden, etwa 350 Kilometer vom Polarkreis entfernt, ist auch im April noch tiefster Winter. Beginnt dort im Frühjahr das Ende der langen Dunkelheit, fängt die Saison für Skitourengeher
• Anreise Die Insel Senja liegt etwa 350 Kilometer entfernt vom Polarkreis nördlich der Lofoten. Sie ist am besten per Flugzeug über Tromsø zu erreichen, von dort geht es mit Mietwagen und Fähre etwa 1,5 Stunden in den Norden Senjas. Achtung: Nicht zu jeder Jahreszeit und Wetter legt die Fähre ab. Über Landwege erreicht man Hamn, Bontham oder Skaland in drei Stunden.
• Unterkunft Beliebt als Ausgangspunkt sind nahezu alle küstennahen
an. Neben dem Auf und Ab von Berg und Meer findet sich auf der Insel nicht viel außer Einsamkeit und Ruhe. Wer Glück hat, der kann auch im Frühjahr noch die beeindruckenden Nordlichter entdecken. In den vergangenen Jahren hat der Tourismus in Norwegens Winterlandschaft zwar insgesamt zugenommen. Im Vergleich zum Schiffstourismus in den Lofoten ist es auf Senja aber ruhiger. Die typischen Häuser in dunklem Rot, von denen einige als Ferienhäuser an Touristen vermietet werden, stehen oft alleine. Zum Nachbarn ist der Abstand groß. Schnickschnack gibt es kaum. Darum geht es an diesem Ort auch nicht.
Auch deshalb finden nach Senja viele Fischer ihren Weg. Gefischt wird aber auch von den Einheimischen. Gruppen von Skitourengehern entdeckt man an den beliebtesten Bergen der Insel zwar einige. Es ist aber ein leichtes, sie hinter sich zu lassen. Trotz aller landschaftlicher Eindrücke ist bei Skitouren immer höchste Vorsicht gefragt. Auch im April kann die Lawinengefahr
Ortschaften. Hotels oder Selbstversorgerhütten finden sich in Hamn oder dem kleinen Örtchen Laukvik.
• Touren Einer der Klassiker auf der Insel ist die Tour auf den Keipen (938m). Gerade im Gipfelbereich allerdings nur bei sehr sicheren Bedingungen zu begehen, weil oben Steilhänge befahren werden. Wer noch nicht genug hat, kann noche den nebenliegenden Grypetippen mit an die Tour anknüpfen.
• Lawinenbericht Norwegen unter www.varsom.no
aufgrund des Neuschnees erheblich sein. So kommt es auch für die zehnköpfige Gruppe. Weil es derart viel geschneit hat, gilt Warnstufe drei von fünf – erhebliche Gefahr. In fremdem Gelände wird sich in den nächsten Tagen umso mehr zeigen, dass es nicht ausreicht, den norwegischen Lawinenbericht lesen zu können. Man muss ihn verstehen.
So stürmisch wie der Neuschnee über die Insel gefegt war, so schnell zieht er nach nur zwei Tagen wieder fort. Die Sonne hat sich durchgekämpft. Trotz immer länger werdenden Tagen steht sie noch sehr flach am Himmel und hält die Temperaturen deshalb nahezu konstant auf wenige Grade unterhalb der Null. Gut für den Erhalt des Pulverschnees. Doch der schöne Anblick täuscht: Die große Menge Schnee macht Altschneelawinen wahrscheinlich. Denn unter dem Neuschnee befindet sich eine dicke Eisschicht. Vor allem in steilem Gelände, über 30 Grad, sind die Schichten kaum miteinander verbunden. Ein falscher Tritt und es können sich Schneebretter lösen. Was dann folgen kann, erfahren die Skitourengeher nur Tage später. Drei Männer geraten am höchsten begehbaren Berg Senjas, dem Kvänan, in eine Lawine.
Der Angler und Nachbar weiß, dass es für zwei der Männer gut ausging. Der Dritte wurde in ein Krankenhaus gebracht. Ausgang ungewiss. Der Angler warnt auf Englisch: „Passt auf euch auf.“
Der Klassiker
Die Warnung ist angekommen. Auf dem Weg zu einem Klassiker der Insel, dem Berg Keipen, sind erstmals mehrere Gruppen unterwegs. Meist geführt von Bergführern. Wie bei fast allen Touren beginnt auch hier der Weg durch dichten Birkenwald. Die sanften Äste biegen sich unter dem Druck der Skier. Lässt man den Wald hinter sich, beginnt steileres weiteres Terrain. Es gilt abzuwägen: Ist der Schnee an diesen Hängen verblasen? Wo könnte Triebschnee sein und wo droht Gefahr, Lawinen auszulösen? Obwohl der Gipfel des Keipen verlockend in die Höhe ragt, scheint es die sichere Variante zu sein, einen flacher ansteigenden – noch unbefahrenen – Hang anzugehen. Auch das ein Genuss.
Wer mehrere Tage am Stück Hänge hinaufgeht, der verfällt – wohl auch mangels Alternativen – in eine Art Meditation. Routine macht das Abschalten leicht. Nach dem Aufstehen und einem kräftigen Bergsteiger-Frühstück geht es an ein Fjord, das meist auf Meereshöhe den Aufstiegsbeginn markiert. Vom Berg geht es in die Sauna, zum Abkühlen ins eiskalte Meer und zurück zu Tisch.
Restaurants? Dazu wäre eine längere Fahrt in ein Dorf notwendig. Stattdessen wird selbst gekocht. Auf seltsame Art und Weise beruhigend ist dabei der Blick auf die benachbarten Angler. Fast sind sie Wetterboten: Wird es tagsüber stürmisch, bleiben die kleineren Boote an Land. Wird es sonnig und windstill, profitieren auch die Fischer davon.
Höchster Gipfel
Wohl kein Bergsteiger beendet eine mehrtägige Tour mit einem guten Gefühl, ohne auf dem höchsten der umliegenden Gipfel gewesen zu sein. Zum Abschluss der Woche fällt die Tourenwahl auf den knapp tausend Meter hohen Kvänen. Dort schließt sich der Kreis: Die Birken, der Wind, die eisigen Temperaturen. Links vom Aufstiegsweg ist gut sichtbar die Abrisskante der Lawine zu sehen, die dort vor einigen Tagen abging. Von weitem betrachtet scheint es leichtsinnig gewesen zu sein, den Hang mit Skiern zu befahren. Keiner wird sich ihm an diesem Tag nähern. Der Aufstieg ist steil und eisig. Spitzkehre um Spitzkehre, auf zum höchsten begehbaren Kamm. Im Rücken ein weites Fjord. Das Ziel hier ist nicht der Gipfel. Er ist im Winter nicht begehbar. Vielmehr ist es die Felskante. Den ganzen Weg über rauscht der Meereswind. Zu beiden Seiten markante Felsen. Alles geht gut. Oben angelangt, scheint es fast wie eine Belohnung der Natur: Es ist windstill, es ist einsam.