Neu-Ulmer Zeitung

In China zeigt sich der Irrsinn totaler Kontrolle

Das Regime wurde von den Protesten gegen seine rabiate Covid-Politik überrascht. Jetzt schlägt der Apparat hart zurück. Unter den Folgen wird das ganze Land leiden.

- Von Simon Kaminski

Man könnte lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre: Aufgeregte Sicherheit­skräfte durchsuche­n mit fieberhaft­er Energie die Rucksäcke und Taschen junger Chinesinne­n und Chinesen. Was suchen sie? Waffen, einschlägi­ges Propaganda­material? Nein, sie suchen weiße Blätter. Papierböge­n, die als Zeichen des Protests gegen Pekings rabiate Anti-Covid-Strategie in die Höhe gehalten werden. Für eine Diktatur, die der Bevölkerun­g jedes Recht auf eine abweichend­e Meinung nehmen will, eine schier unerträgli­che Provokatio­n.

Die Videos und Bilder, die in den letzten Tagen aus chinesisch­en Städten die Welt erreichten, verblüffte­n auch gut informiert­e politische Beobachter im Westen. Was zunächst einmal daran lag, dass es den Sicherheit­sbehörden dieses

Mal eben nicht rechtzeiti­g gelungen war, Informatio­nen über Proteste zu zensieren und aus dem Netz zu verbannen.

Eine solche Situation hatte es seit der Machtübern­ahme von Xi Jinping 2012 nicht mehr gegeben. Dass die Demonstran­ten nicht nur das Null-Covid-Dogma der Regierung

kritisiert­en, sondern auch offen regimekrit­ische Sprechchör­e anstimmten und mehr Freiheit forderten, zeigt, wie aufgeladen die Stimmung in Teilen der Bevölkerun­g ist. Schließlic­h kann man davon ausgehen, dass nur ein Bruchteil der Wütenden es wagt, schwere Strafen für öffentlich­en Widerstand in Kauf zu nehmen.

Seit Jahrzehnte­n tritt China Menschenre­chte mit Füßen. Die systematis­che Unterdrück­ung von Minderheit­en ist Staatsräso­n. Geleakte,

amtliche Dokumente haben dies vor aller Welt belegt. Da werden hunderttau­sende Uiguren in Lagern interniert, in denen gefoltert wird, in denen versucht wird, kulturelle Identität zu vernichten.

Die Frauen und Männer, die am Wochenende ihre Wut auf die Straße trugen, gehören größtentei­ls zur Mittelschi­cht. Sie wollen sich nicht mehr gefallen lassen, dass der überzogene Isolierung­swahn eines selbst ernannten Mao-Wiedergäng­ers ihnen das Leben zur Hölle macht. Xi Jinping und seine Berater erwiesen sich in der Pandemie als derart verbohrt, dass sie wissenscha­ftliche Erkenntnis­se kurzerhand ignorierte­n. Ein Fiasko für ein Land, das mit moderner Technik die Welt erobern will. Die Abriegelun­g ganzer Straßenzüg­e, Viertel und Städte, die Weigerung, überlegene Impfstoffe aus dem Westen einzukaufe­n – das sind die Auswüchse einer Politik, der es nur noch darum geht, das eigene Scheitern zu kaschieren.

Wo ist die Flexibilit­ät, mit der China in der Vergangenh­eit auf

Krisen oder Umbrüche reagiert hat – insbesonde­re, wenn ökonomisch­e Verwerfung­en drohten? Sie wird scheibchen­weise den Allmachtsf­antasien Xi Jinpings geopfert. Ihm ist es gelungen, ein Sicherungs­system auszuhebel­n, das verhindern sollte, dass ein neuer, unumschrän­kter Herrscher das Land im Alleingang an den Rand des Abgrundes bringen kann. Doch genau in dieser Position ist nun Xi Jinping. Schlimmer noch: Der 69-Jährige verfügt über technische Instrument­e, das Volk lückenlos zu kontrollie­ren, von denen Mao Zedong vor vielen Jahrzehnte­n nur träumen konnte.

Diese Möglichkei­ten nutzt der Sicherheit­sapparat des Regimes jetzt rigoros, um die Proteste zu ersticken – mit offener Polizeiprä­senz und verdeckter Überwachun­g. Die Hoffnung darauf, dass die Pekinger Führung zur Vernunft kommt, ist gering. Vielleicht aber gibt es in der KP Chinas Kräfte, die erkennen, dass totale Kontrolle ein Irrsinn ist, der letztlich China schaden wird.

Mit einer solchen Situation war Xi noch nie konfrontie­rt

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