Auf der Suche nach dem Götze-Moment
Die Deutschen spielen gut, treffen aber selten. Es ist ein eher neues Phänomen. Vor dem Spiel gegen Costa Rica wird der Kader daher nach Kandidaten für Glücksgefühle durchforstet.
Al Ruwais Sich das Spiel auf diese Art und Weise zu erdenken, glich einem Akt masochistischer Perversion. Neben der körperlichen Ertüchtigung soll doch der Sport immer der Freude dienen. Dementsprechend liegt es nahe, das Spielziel so zu definieren, dass sich möglichst oft ein Glücksgefühl einstellt. Im Basketball rauscht der Ball beispielsweise rund 80 Mal pro Spiel durch die Reuse. 80 Mal Freude. Trifft man von der Freiwurflinie, erhält die Mannschaft einen Punkt, traut man sich den Wurf aus großer Entfernung zu, winken drei Zähler, für alle anderen Treffer gibt es zwei Punkte.
Zu einfach sollte der Sport freilich auch nicht konzipiert werden. Einer der Gründe, weshalb sich das Internationale Olympische Komitee standhaft weigert, Papierkugelschnipsen ins Programm aufzunehmen. Die Architektur eines Fußballspiels ist nun aber derart gestaltet, dass freudvolle Augenblicke nur kaum vorkommen. Aus deutscher Sicht: zu selten. In den vergangenen fünf WM-Spielen gelangen nur vier Treffer.
Dabei befinden sich im deutschen Kader haufenweise Spieler, die geübt darin sind, den Ball ins Tor zu befördern. Thomas Müller ist der einzig aktive Fußballer weltweit, der bei Weltmeisterschaften schon zehn Mal getroffen hat. In Jamal Musiala, Serge Gnabry und Niclas Füllkrug stehen drei der erfolgreichsten sechs Torschützen der laufenden Bundesligasaison im Kader. Dazu noch unter anderem Leroy Sané oder Kai Havertz, die allesamt schon wichtige Tore für Verband oder Verein geschossen haben.
Müller kommt dann auch nicht umhin zu sagen, dass man „gute Optionen“im Kader habe. Bundestrainer Hansi Flick habe „die Qual der Wahl“, bei der Aufstellung gegen Costa Rica am Donnerstag jene Spieler auf den Platz zu schicken, die Tore für den notwendigen Sieg erzielen sollen. Nur mit einem Erfolg hat die deutsche Mannschaft die Chance, sich für das Achtelfinale zu qualifizieren. Gewinnen zeitgleich die Japaner überraschend gegen Spanien, müsste man möglicherweise sogar mit sieben Toren Abstand gewinnen. Eher unwahrscheinlich mit einem Blick auf das dem Fußball zugrunde liegende Spielkonzept und deutsche Treffsicherheit.
Es ist eines der neueren Phänomene des Weltfußballs, dass sich die Deutschen derart schwertun, den Ball ins Tor zu befördern – das mit der Größe von 17,86 Quadratmetern auch gar nicht so klein ist und in etwa den Ausmaßen eines durchschnittlichen Schlafzimmers entspricht. Die Älteren werden sich möglicherweise noch daran erinnern, dass es dem deutschen Fußball jahrzehntelang an vielem mangelte – selten jedoch an einem beständig treffenden Stürmer. In der Ahnengalerie der Angreifer befinden sich unter anderem Gerd Müller (14 WM-Tore), Jürgen Klinsmann (elf WM-Tore) und Miroslav Klose. Kein Erdenbürger hat häufiger bei dem Turnier getroffen als der Deutsche (16 WM-Tore).
„Ich habe zu Miro 2002 extrem aufgeschaut, als ich noch ein Bub war“, erinnert sich Füllkrug an die Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea. Der Mann, der wenige
Jahre zuvor noch für den SG Blaubach-Diedelkopf auflief, erzielte damals in den ersten drei Spielen fünf Tore. Auch Klose war ein Spätberufener, fand den Weg ins Profigeschäft erst, als er seine Lehre zum Zimmermann abgeschlossen hatte. Füllkrug stieß mit 29 Jahren erstmals zur Nationalmannschaft und gilt vielen als vorrangige Hoffnung, wenn es darum geht, den deutschen Tor-Bann zu brechen. Er befeuerte diese Hoffnung durch seinen Treffer gegen Spanien. Wie ein klassischer Mittelstürmer, den man schon länger nicht mehr im Dress der deutschen Nationalelf gesehen hatte.
Dass er deswegen gegen Costa Rica von Anfang an wird auflaufen dürfen, ist trotzdem nicht sicher. Hansi Flick hat das Spiel seiner Mannschaft ursprünglich anders konzipiert. Auf Variabilität und Positionswechsel getrimmt. Ähnlich wie es Julian Nagelsmann beim FC Bayern in der Frühphase der Saison gemacht hat. Der Erfolg in München kam zurück, als EricMaxim Choupo-Moting in die Mannschaft rückte. Auch er: ein Stürmer.
Flick nun also steht vor der Entscheidung, seinen Spielstil ein wenig zu ändern oder darauf zu hoffen, dass sich bei einem der Hochbegabten nun endlich der Trefferknoten löst. Musiala eröffneten sich beispielsweise schon mehrere gute Möglichkeiten solcher Art, die er im Dress des FC Bayern in dieser Saison noch nicht verstreichen ließ. Gnabry befindet sich mal wieder in einer für ihn typischen Phase. Mal trifft er reihenweise und gerne auch mehrfach in einem Spiel, dann wieder folgen etliche Partien ohne Torerfolg. Und Müller hat sein letztes WM-Tor 2014 erzielt. „Am Ende wirst du nach außen an Torbeteiligungen und Torszenen bewertet“, weiß er. „Da bin ich mit null Torschüssen nach zwei Spielen nicht zufrieden“.
Der Fußballsport lebt zu einem großen Teil vom Warten auf einen dieser seltenen Glücksmomente. Wenn es dann doch mal gelingt, den Ball in dem schlafzimmergroßen Viereck unterzubringen: diesen „Götze-Moment“, wie ihn Müller nennt. Götze, der mit dem einzigen Tor des Spiels das WM-Finale 2014 entschied.
Habt Spaß und vermehret euch. Oder auch nicht. Prüderie entsteht im Kopf. Manche mag auch überraschen, dass unverschleierte Frauen zum normalen Straßenbild gehören. 90 Prozent der Einwohner und Einwohnerinnen sind keine katarischen Staatsbürger. Die meisten von ihnen führen ein wohlhabenderes Leben, als sie es in ihren Heimatländern tun könnten. Überraschend – wenn man sich zuvor nicht informiert.
Nun soll an dieser Stelle nicht politisiert (das wurde es aus gegebenem Anlass schon häufiger), sondern der Bogen zum Sport gespannt werden. Sex und Treffer haben ja auch viel gemein. Einige Spieler haben nach Toren schon behauptet, dieses Erfolgserlebnis sei besser als Sex. Was wiederum ihre Frauen überrascht haben könnte. Überraschend nun aber auch, dass beispielsweise SaudiArabien und Marokko noch gute Chancen haben, ins Achtelfinale dieser WM einzuziehen. Derlei Unvorhergesehenes bietet dann eben doch nur der Sport – was wiederum nur wenig überrascht.