Dr. Seltsam und Mister Futsch
Ab 8. Dezember wird der Wirecard-Skandal in München in einem Strafverfahren aufgearbeitet. Der Hauptangeklagte ist der frühere Firmen-Chef Markus Braun. Doch mit Jan Marsalek fehlt bei dem Prozess die einstige Nummer zwei. Lebt er in der Nähe von Moskau?
München Es wird langsam dunkel in Gablingen. Die Fahrt zur Justizvollzugsanstalt im Norden Augsburgs führt durch ein Industriegebiet hindurch. Ewig lang wirken die weißen Mauern des Gefängnisses. Auf einer Tafel steht „Sicherheitsbereich. Vorsicht. Schusswaffengebrauch. Videoüberwachung.“. Das ist also Bayerns ausbruchssicherster Knast, wie zur Einweihung der Anlage im Jahr 2015 geschrieben wurde. Der damalige bayerische Justizminister Winfried Bausback hatte versichert, dass es nicht um einen „Hotel- oder Verwöhnvollzug“gehen werde. Den Insassen solle Gelegenheit gegeben werden, von ihrem Fehlverhalten Abstand zu gewinnen.
Dazu hatte der frühere Wirecard-Chef Markus Braun als einer der prominentesten Insassen der Anstalt viel Zeit. Denn seit 22. Juli 2020 befand sich der 53-Jährige dort in Untersuchungshaft und zog erst am 10. November dieses Jahres von der JVA Augsburg-Gablingen in die Münchner Justizvollzugsanstalt, also nach Stadelheim, um. Zuletzt ist es um den Mann, der ab 8. Dezember in München für zunächst 100 Verhandlungstage vor Gericht steht, ruhig geworden. Aus seinem Umfeld dringt kaum etwas nach außen. Vor einem Jahr ließ sich noch in Erfahrung bringen, das alles sei für den Mann „sehr, sehr bitter“. Damals sagte ein Vertrauter des Managers unsere Redaktion, Braun sei bereit, Meldeauflagen zu erfüllen, ja eine Fußfessel zu tragen, um zu seiner Frau und der noch kleinen Tochter zurückzukehren. Doch aus der Fußfessel und der Rückkehr zur Familie ist nichts geworden. Immer wieder wurde die Fortdauer der U-Haft angeordnet. Daher wird Braun den Auftakt des Verfahrens als Untersuchungshäftling erleben. Er muss sich mit zwei weiteren, weniger bekannten ehemaligen Wirecard-Managern massiven Vorwürfen vor Gericht erwehren. Die Staatsanwaltschaft
Massive Vorwürfe gegen Wirecard-Manager
hält dem früheren Chef des OnlineBezahlungsdienstleisters vor, die Bilanzsumme und den Umsatz von Wirecard durch das Vortäuschen von Einnahmen aufgebläht zu haben. Der Manager soll als einst größter Einzelaktionär mit Unterstützern die börsennotierte Wirecard AG für Investoren attraktiver dargestellt haben, als sie es war. Dabei geht es auch um angebliche Bankguthaben auf Treuhandkonten zweier philippinischer Finanzhäuser von 1,9 Milliarden Euro.
Das Unternehmen musste 2020 einräumen, dass diese Bankguthaben „mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen“. Nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft haben Braun und seine Mitspieler darauf hingearbeitet, Wirecard als rasant wachsendes Unternehmen darzustellen. Dazu hätten sie vor allem in Asien angeblich äußerst ertragreiche Geschäfte erfunden. Folglich wurde Braun wegen Kapitalmarktdelikten, Untreue und gewerbsmäßigen Bandenbetrugs angeklagt. In letzterem Fall droht ihm eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren. Der frühere Firmen-Boss hatte alle Vorwürfe von seinen Anwälten zurückweisen lassen.
Wirecard-Kenner wie der frühere Linken-Politiker
Fabio De Masi wollen nicht an eine saftige Strafe für Braun glauben. So sagt er unserer Redaktion: „Für mich besteht ein hohes Risiko, dass er mit einem blauen Auge davonkommt. Ich schaue mit einem schlechten Gefühl nach München.“De Masi kann sich vorstellen, dass der Angeklagte zwar etwa für die unrichtige Darstellung der Konzern-Abschlüsse der Jahre 2015 bis 2018 zur Rechenschaft gezogen wird, sonst aber die Sache für ihn glimpflich ausgeht. Der Politiker gehörte von 2017 bis 2021 dem Bundestag an. Bekannt wurde der 42-Jährige als Obmann im Wirecard-Untersuchungsausschuss.
Auch nach seiner Zeit im Bundestag beschäftigt sich der Volkswirt mit Wirtschaftsskandalen. Er sieht sich als Finanzdetektiv und Autor. In der Doppelrolle hat ihn der Rowohlt-Verlag im Oktober für ein Buch unter Vertrag genommen, das sich um Finanz-Affären dreht. Der Fall „Wirecard“werde eine Rolle spielen, verrät De Masi. Nach seiner Theorie werde Braun alle Schuld für die fehlenden 1,9 Milliarden Euro auf Wirecard-Konten seinem früheren Vorstandskollegen Jan Marsalek zuschieben, der als Chief Operating Officer für das Tages- und Fernost-Geschäft zuständig war. Letztlich – und das befürchtet nicht nur De Masi – könnte Braun, der am Ende des Prozesses wohl gut dreieinhalb Jahre Untersuchungshaft auf dem Buckel hat, nach einem Urteil in vielleicht zwei, drei Jahren ein freier Mann sein.
Das ist die Blaue-Augen-Theorie. Vielleicht wartet 2026, 2027 oder 2028 auch noch irgendwo ein gut verstecktes Millionen-Sümmchen auf den einstigen Wirecard-Boss. Solange Marsalek nicht auftaucht und aussagt, eignet er sich bestens, um einen Großteil der Schuld auf ihn abzuladen. Hier geht die Blaue-Augen-Theorie fließend in die Arbeitsteilungs-Theorie über: Demnach hätten Braun und Marsalek eine Art Deal geschlossen: Letzterer taucht ab, bis der Prozess vorüber ist. Das ist für den Ex-Wirecard-Chef praktisch, weil er seinen früheren Kompagnon in Abwesenheit munter belasten kann.
Beide Wirecard-Männer zahlen einen hohen Peis: Braun muss die nicht enden wollende Untersuchungshaft erdulden, während Marsalek irgendwo ausharrt und keine Aussicht darauf hat, jemals in das geliebte München mit seinen von ihm geschätzten Genuss-Optionen zurückzukehren. Hier ist von mancher Seite zu hören, dass es in Deutschland kein gesteigertes Interesse gebe, dass Marsalek zurückkommt. Dazu passen die Recherchen von De Masi: Denn nach seinen Erkenntnissen war der Österreicher mit James-Bond-Allüren kein normales Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft. Marsalek hat, wie längst herauskam und Braun bekannt sein müsste, ein Doppel-Leben als Manager und Zuarbeiter von Geheimdiensten gespielt. De Masi nennt ihn einen „HandyMan“, ja „Laufburschen“von Sicherheitsbehörden, ob in Österreich oder Deutschland. „Er turnte sogar auf der Sicherheitskonferenz in München herum“, gibt der frühere Abgeordnete zu bedenken.
Nun bringt De Masi eine dritte Theorie ins Spiel, mit der es sich so verhält: Als 2015 und 2016 hunderttausende Flüchtlinge nach Europa kamen, passte die pragmatische Haltung der damaligen Kanzlerin Angela Merkel vielen im konservativen Lager Deutschlands nicht ins Weltbild – und zwar sowohl in der Union als auch in Geheimdienstkreisen. Da schaute mancher bewundernd auf den noch aufstrebenden Stern des österreichischen Politikers Sebastian Kurz, der mit jungenhaftem Gesicht als Außenminister und späterer Kanzler den Typus eines standfesten
Konservativen verkörperte, der sich in Migrations-Themen von der Willkommenskultur Merkels abzusetzen versuchte. Zugleich gab es nach Darstellung De Masis in konservativen Kreisen Deutschlands den Wunsch, stärker auf Russland zuzugehen und sich nicht zu sehr von den USA abhängig zu machen. Hier soll Marsalek mit seiner Abenteuerlust und seinem Geltungsdrang als bestens auch in österreichischen und russischen Sphären vernetzter Hobby-Agent für Geheimdienste Jobs übernommen haben. Interessant war der Mann für Sicherheitsbehörden auch deswegen, weil Wirecard als Online-Zahlungsdienst-Abwickler Kenntnisse über viele Menschen, auch aus dem kriminellen Milieu, hatte. Dabei soll Marsalek sogar in Libyen aktiv gewesen sein und dort mit russischer Hilfe versucht haben, eine Söldner-Truppe zur Bewachung der Südgrenze des Landes zu organisieren. Nach der Theorie handelte er im Sinne konservativer Kreise, denen daran gelegen war, den Flüchtlingstross nach Europa zu stoppen.
All das würde wiederum erklären, warum der Wirecard-Prozess ohne Marsalek auskommen muss. Dafür hätte seine Auslieferung nach Deutschland mit Nachdruck betrieben werden müssen. Weil das wohl unterblieb, ist dies nicht nur für De Masi ein weiteres Indiz dafür, „dass der Fall Wirecard nicht nur ein WirtschaftsSkandal, sondern auch ein GeheimdienstSkandal ist“. Das Wort „Geheimdienst“sei diesem Hänschen Bond auf die Stirn geschrieben gewesen. De Masi ist überzeugt: „Marsalek wird auf absehbare Zeit nicht auftauchen. Niemand hätte daran Interesse.“Braun wohl am wenigsten. Der soll sich, was Teil der Arbeitsteilung mit dem untergetauchten Manager war, nicht für die Details der James-Bond-Spielchen interessiert haben. Ihm behagte vielmehr die Rolle des hyperintelligenten Wirtschafts-Informatikers, der Wirecard wie ein Start-up immer größer machte und sich im einstigen Glanz des sagenhaften Firmen-Imperiums sonnte.
Doch wo steckt der nach wie vor polizeilich gesuchte Marsalek, der wie ein Geist in München vor Gericht sitzen wird? Lebt er überhaupt noch? Davon geht der Undercover-Ermittler Tamer Bakiner aus. Der aus Augsburg stammende Detektiv hat sich intensiv mit dem Schicksal des 42-jährigen einstigen Wirecard-Vorstands beschäftigt und auch selbst die Suche nach ihm aufgenommen. Zunächst glaubte Bakiner, Marsalek habe sich ganz nach Dubai abgesetzt, weil dort Kriminelle mit entsprechend viel Geld luxuriös untertauchen können. Doch nach seinen jüngsten Nachforschungen spricht vieles dafür, dass er unter der Obhut des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB westlich der Stadtgrenzen Moskaus in einem goldenen NobelVorort-Käfig namens Rubljowka lebt.
Die dortige Gegend wird wegen der prächtigen Villen und dem ausschweifenden Leben ihrer Besitzer Straße zur Glückseligkeit genannt. Glückselig wird jedoch nur, wer über das entsprechende pekuniäre Potenzial zur Dauer-Ausschweifung verfügt. Bakiner zufolge soll Marsalek keine Luxus-Not leiden. Er hat wohl ausreichend Geld aus dem Wirecard-Kosmos abgezwackt, um sich das Leben in der russischen Superreichen-Diaspora mit Grundstückspreisen von angeblich 40.000 Dollar pro Quadratmeter leisten zu können. Auch dem Detektiv ist zugeflüstert worden: „Die Deutschen wollen Marsalek gar nicht.“
Daher kann Braun wohl seine Blaue-Augen-Strategie, ungestört vom Mann, der zu viel weiß, weiterverfolgen. Der promovierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler wirkt in seiner Unnahbarkeit und kauzigen Art wie ein Dr. Seltsam. Ehe der Schwindel aufflog, umwehte ihn bei seinen öffentlichen Auftritten eine mysteriöse Aura. Der schlanke Mann mit dem schütteren Haar und der randlosen Brille wollte den Menschen stets ein Geheimnis bleiben und spekulierte doch auf deren Anerkennung, wenn er über die Welt der Digitalisierung genussvoll gerne mit Rollkragenpullover und gesenktem Kopf predigte, als würde er in sich hineinreden.
Marsalek hingegen ist ein hyperaktiver, charmanter Netzwerker, ein Draufgänger, durchaus in sich verschossen. Solche Menschen verscheuchen Selbstzweifel elegant mit einer Hand wie Fliegen. Er soll im
Marsalek gilt als Draufgänger
Münchner Nachtklub P1 mit den Söhnen des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi gefeiert haben. Wie das Handelsblatt herausfand, besaß der Aufsteiger eine Kreditkarte aus echtem Gold und war Stammgast in Münchens Sterne-Lokal Tantris, wo er nur für Champagner an manchen Abenden tausende Euro hingelegt habe.
Ein wenig wirken Braun und Marsalek wie Dr. Seltsam und Mister Schräg. Wenn der Prozess beginnt, wird ein Defizit bleiben. Denn viele Fragen über einen der größten Wirtschaftsskandale kann nur Marsalek beantworten. Doch Mister Schräg ist längst ein Mister Futsch. Manch Wirecard-Kenner wie Bakiner hegt Zweifel daran, dass er jemals wieder auftaucht.