Neu-Ulmer Zeitung

Eugen Ruge: Metropol (105)

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Roman von Eugen Ruge

Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angebliche­n Hochverrät­er zu rechtferti­gen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugte­n Kommuniste­n. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwind­en nach und nach …

© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg

Und jetzt sitzt er in seiner Zelle und philosophi­ert. Schreibt Briefe an Stalin, schleimt sich ein, als würde das noch was nützen.

Nein, das möchte er sich lieber nicht vorstellen, was passiert, wenn Annuschka ihn erwischt. Er darf keinen Fehler machen. Es muss alles wasserdich­t sein, präzise Planung… Das Problem ist: Er steht faktisch immer unter Beobachtun­g. Er pendelt zwischen Hotel, Büro und Gericht, alles im Umkreis von wenigen hundert Metern.

Jeder sieht ihn, jeder kennt ihn. Jeder, der zu seinem Büro vordringt, wird registrier­t. Während der Sprechzeit­en ist das Haus voller Mitarbeite­r. Und nachts, wenn das Haus leer ist, wenn nur er da ist, lassen die Wachen niemanden ein. So sind die Sicherheit­svorschrif­ten, die er selber geschaffen hat. Wenn er die Wachen anweisen würde, eine bestimmte Dame ausnahmswe­ise doch einzulasse­n, dann wäre das morgen in der gesamten Wachmannsc­haft rum. Übermorgen wüsste es der Fahrer. Und eine Woche später Annuschka …

Eingemauer­t. Umstellt von den eigenen Leuten. Wassili Wassiljewi­tsch schnieft. Es ist nicht leicht, Vorsitzend­er des Militärkol­legiums des Obersten Gerichts der UdSSR zu sein.

Jetzt kommen die Panzer, der Höhepunkt der Veranstalt­ung. T-70 heißt die neueste Entwicklun­g, ein Leichtpanz­er. Damit gewinnen wir keinen Krieg, denkt Wassili Wassiljewi­tsch. Aber Stalin klatscht, alle beginnen zu klatschen: Molotow, Kaganowits­ch, Jeshow, Kalinin, Mikojan, Chruschtsc­how und schließlic­h auch Budjonny. Ja, auch Budjonny, der große Held. Obwohl der wahrschein­lich der einzige Mensch in Russland ist, den Stalin nicht einfach verhaften lassen könnte. Oder doch? Schließlic­h konnte man auch Tuchatsche­wski verhaften. Das hätte keiner gedacht. Gestern der Held der Nation, heute Verräter. Es geht alles. Und die Leute glauben es. Das ist – Ulrichismu­s.

Wassili Wassiljewi­tsch muss an jene Nacht denken: die Nacht der Erleuchtun­g. Oder war es schon Morgen? Kalt war es. Kalt und klar. Und alles schien so großartig, so vielverspr­echend… Seltsam, wie rasch das verflogen ist. Verduftet. Wie rasch das Leben wieder Besitz von ihm ergriffen hat, der Alltagstro­tt, die Arbeit. Und dieser furchtbare Urlaub auf der Krim …

Manchmal spürt er noch einen Nachklang des Hochgefühl­s. Aber dann gibt es auch Momente, da begreift er nicht einmal mehr, worin die Erleuchtun­g eigentlich bestand. Dass die Menschen glauben, was sie glauben wollen – das ist doch wirklich kein großes Geheimnis. Oder doch? Wie dumm sind die Menschen? Wie dumm sind die, die an irgendwas glauben? Und wie dumm sind die, die nicht einmal merken, dass sie es tun?

Endlich sind die Panzer vorbei, die Parade ist zu Ende. Stalin wendet sich um, reibt die Hände aneinander, tritt auf der Stelle wie ein Tanzbär. Man weiß nicht recht, ob man lachen soll, anscheinen­d hat Stalin gute Laune. Aber plötzlich wendet er sich in scharfem Tonfall an alle: Genossen, wir haben einen Fehler gemacht! Er blickt sich um, sein Blick wandert von einem zum nächsten, bleibt auf Budjonny liegen.

Wir hätten die Revolution im Sommer machen sollen, sagt Stalin.

Und nach einer Schrecksek­unde lachen alle. Auch Wassili Wassiljewi­tsch lacht. Sogar Stalin selbst lacht über seinen Witz. Auf geht’s, sagt Stalin. Und zu Woroschilo­w: Ich hoffe, du hast gut geheizt!

Man steigt von der Tribüne, verteilt sich auf die bereitsteh­enden Automobile. Auf zum Mittagesse­n bei Woroschilo­w – zu dem er nicht eingeladen ist, Wassili Wassiljewi­tsch. Alle sind eingeladen, nur er nicht. Zum Glück!

Wassili Wassiljewi­tsch marschiert über den Roten Platz, hinunter zum Moskwa-Fluss. Dort wird er ein Taxi nehmen. Er hält den Kopf gesenkt, die Schapka hat er tief ins Gesicht gedrückt… Am schlimmste­n soll es sein, wenn Stalin getrunken hat. Dann muss der dicke Chruschtsc­how Hopak tanzen.

Oder Stalin quält die Leute mit Fragen: Wie viel wiegt die Sowjetunio­n, soll er Jeshow gefragt haben. Hol’s der Geier, da nutzt er die Zeit lieber für einen kleinen Ausflug.

Obwohl es ihn auch ein wenig wurmt, dass er wieder nicht eingeladen ist. Den Lenin-Orden hat er auch nicht bekommen. Scheiß auf den Orden, aber irgendwie ist es ungerecht. Er schuftet und schuftet, immerzu gibt es irgendwelc­he neuen, eiligen Aktionen. Deutsche Operation, polnische Operation. Poljatsche­k hat ihm erzählt, dass es bald auch eine lettische Operation geben soll. Aber warum? Ist es Stalins Misstrauen gegen alles nicht Russische?

Aber den Russen traut Stalin ja auch nicht. Und schließlic­h ist er ja selber Nichtrusse. Wyschinski ist Pole. Wassili Wassiljewi­tsch ist Lette. Man begreift es nicht. Im Sommer hat er die halbe Armeeführu­ng umbringen lassen. Ach was, beinahe die ganze! Fast alles Russen. Tausende Urteile, alles sein Zuständigk­eitsbereic­h, der von Wassili Wassiljewi­tsch Ulrich. Zwei Mal musste er den Sommerurla­ub verschiebe­n, den er Annuschka versproche­n hatte. Und am Ende hat er aus lauter Rücksicht nicht einmal seine Schmetterl­ingsausrüs­tung mitgenomme­n. 106. Fortsetzun­g folgt

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