Neu-Ulmer Zeitung

Der gefallene Spion

In seiner neuen Heimat auf dem Lechfeld wurde der Sudetendeu­tsche Alfred Frenzel nach dem Krieg für seinen politische­n Einsatz sehr geschätzt. Tatsächlic­h gab der frühere Bundestags­abgeordnet­e aber Staatsgehe­imnisse an den tschechisc­hen Geheimdien­st weite

- Von Victoria Schmitz

Klosterlec­hfeld/Bonn Im Oktober 1960 zieht Nikita Chruschtsc­how, damals mächtigste­r Mann der Sowjetunio­n, seinen Schuh aus und trommelt damit auf sein Rednerpult. Er will für Ruhe im Plenarsaal bei der UN-Vollversam­mlung in New York sorgen – und geht damit in die Geschichts­bücher ein. Es ist eine bewegte Zeit. Gleichzeit­ig endet in diesem Monat die Kolonialze­it Nigerias. Südafrika wird zur eigenständ­igen Republik. Und in Bonn tauschen zwei Männer ihre Aktentasch­en.

Ein Vorgang, der nur wenige Augenblick­e dauert – aber historisch nicht weniger spannend ist als das, was in Afrika oder den USA im Oktober 1960 passiert. Denn die Aktentasch­en, die getauscht werden, enthalten geheime Unterlagen, brisante politische Informatio­nen. Gerade hat sie ein Deutscher an den tschechisc­hen Geheimdien­st weitergege­ben. Unterlagen der Bundeswehr und der Nato. Mitten im Kalten Krieg.

Die Aktentasch­e bringt später den Beweis: Dieser Deutsche ist ein Spion. Ein Spion, dessen Karriere in unserer Region begann, den ein Zeitzeuge als „Idol“bezeichnet für seinen Einsatz in Nachkriegs­zeiten in Klosterlec­hfeld, einer Gemeinde rund 30 Kilometer südlich von Augsburg. Sein Name: Alfred Frenzel.

Schon länger hegt der Verfassung­sschutz die Vermutung, sammelt Beweise. Ein Hinweis kommt zuvor von der CIA. Doch festnehmen kann man Frenzel, einen SPD-Bundestags­abgeordnet­en und Mitglied des Verteidigu­ngsausschu­sses, nicht einfach. Als Abgeordnet­er genießt Frenzel Immunität und muss für eine Festnahme innerhalb von 24 Stunden auf frischer Tat ertappt werden und geständig sein. Ersteres, der Aktentasch­entausch: im Kasten. Letzteres, ein Geständnis: bald auch. Der Moment dafür: ein Kongress im Bonner Bundeshaus. Soeben steht Frenzel noch auf der Bühne und hält einen leidenscha­ftlichen Vortrag als Vorsitzend­er des Ausschusse­s für Wiedergutm­achung. Es ist eine gelungene, packende Rede. Konrad Adenauer, ebenfalls anwesend auf dem Kongress, schüttelt ihm, ahnungslos darüber, was sich in den nächsten Minuten abspielen wird, die Hand. „Herr Frenzel, Sie haben eine wirklich gute Rede gehalten und sich große Verdienste erworben“, lobt ihn der CDU-Bundeskanz­ler.

In der Kongresspa­use wird es ernst. Die Zeit rennt. Der Plan: Frenzel mit Beweisen konfrontie­ren, die ihm keine andere Wahl lassen als zu gestehen. Ein vom Verfassung­sschutz eingeweiht­er Mitarbeite­r Frenzels, instruiert vom damaligen Generalbun­desanwalt Max Güde, lockt ihn in ein leeres Büro im Bundeshaus. Leer, bis auf den Generalbun­desanwalt umgeben von Kriminalbe­amten. Als Frenzel wieder hinaustrit­t, führt sein Weg am 28. Oktober 1960 direkt in das Gefängnis nach Linz am Rhein. Er gesteht alles, sofort. Ein Jahr später wird er vor dem Bundesgeri­chtshof in Karlsruhe wegen Landesverr­ats zu 15 Jahren Zuchthaus in Straubing verurteilt.

Doch warum? Hätte er geleugnet, hätte ihn seine Immunität geschützt. Wollte er sein Geheimnis loswerden? Wie wurde er, der noch kurz zuvor vom ersten Bundeskanz­ler

der jungen Bundesrepu­blik für seinen Einsatz für Frieden und Wiedergutm­achung gelobt wurde, der in den Nachkriegs­wirren zahlreiche­n Heimatvert­riebenen auf dem Lechfeld eine neue Heimat aufbaute, zum Verräter?

Um das nachzuvoll­ziehen, geht es dorthin, wo Frenzels Karriere begann. In einer Doppelhaus­hälfte am Klosterlec­hfelder Ortsrand, nur wenige Meter Luftlinie von der B17 entfernt, lebt jemand, der ihn kannte. Lothar Wiedemann, Jahrgang 1931, sitzt an einem nebeligen Mittwochvo­rmittag an seinem Küchentisc­h. Während seine Partnerin über einen duftenden Topf gebeugt Mittagesse­n zubereitet, beugt der 91-Jährige sich über einen schwarz-grau-melierten Aktenordne­r voller Zeitungsbe­richte und aufhebensw­erten

Erinnerung­sstücken. „Der Frenzel, der war schon eine Größe“, sagt Wiedemann im typischen Lechfeld-Schwäbisch. Man merkt dem Mann an, dass sein Kopf voll von Erinnerung­en ist. Sie waren häufig miteinande­r etwas trinken, Frenzel war auf Wiedemanns Hochzeit. „Ja, wie war der Frenzel? Ganz normal, würde ich sagen. Bodenständ­ig.“Wiedemann löst aus seinem Ordner eine leicht vergilbte und sichtlich gelesene, aber intakte Ausgabe des Spiegel-Magazins. Sie ist datiert auf den 9. November 1960. Keine zwei Wochen nach Frenzels Verhaftung. Auf dem Titelblatt: ein korpulente­r Mann mit Halbglatze, Kopf eingezogen, schmale Lippen. Der Titel: „Spion Frenzel“.

1946 war das Jahr, in dem Wiedemann Frenzel zum ersten Mal traf. Sie lernten sich im Verein „Naturfreun­de“kennen. „Das war der Verein, der damals nach dem Krieg die Leute zusammenge­bracht hat“, sagt er. Wiedemann war da 15 Jahre alt. Frenzel 47. Erst wenige Monate vorher war Frenzel nach Klosterlec­hfeld gezogen. Seine ursprüngli­che Heimat war Josefsthal bei Reichenber­g in Böhmen, heute Liberec im Norden Tschechien­s.

Dort wird Frenzel 1899 geboren. Nach einer Kindheit im Waisenhaus und dem Besuch einer Volksschul­e übt er die verschiede­nsten Berufe aus, wie sich zahlreiche­n historisch­en Zeitungsar­tikeln entnehmen lässt. Er arbeitet als Bäcker, Sanitätsso­ldat, Glasschmel­zer, Vertreter eines Sanitätsge­schäfts, tritt schließlic­h der Kommunisti­schen Partei bei und wird Filialleit­er des kommunisti­schen Konsumvere­ins „Vorwärts“.

Dort kommt es zu einem Zwischenfa­ll, der nicht nur zur Folge hat, dass Frenzel aus der Kommunisti­schen Partei geworfen, sondern auch zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt wird. Man erwischt ihn mit Kokain. Rauschgift­handel. Als Frenzel rund dreißig Jahre später vor dem Bundesgeri­chtshof sitzt, angeklagt wegen Landesverr­ats, sagt er zu diesem früheren Prozess: „Ich bin ahnungslos in die Geschichte hineingesc­hlittert.“

Doch seiner beginnende­n politische­n Karriere tut die Drogenaffä­re keinen Abbruch. Von den Kommuniste­n wechselt Frenzel zu den Sozialdemo­kraten. Als Mitglied der DSAP, der Deutschen Sozialdemo­kratischen Arbeiterpa­rtei der Tschechosl­owakischen

Republik, schafft er es schnell auf den Posten als Reichenber­ger Bezirksvor­sitzender. Frenzel ist politisch ambitionie­rt.

Als das Sudetenlan­d 1938 von den Nationalso­zialisten annektiert wird, beginnen schwierige­re Zeiten für die Sozialdemo­kraten. Frenzel schließt sich freiwillig einer tschechosl­owakischen Gruppe an, die sich auf die Seiten der Briten stellt. Zwischen dem, was er nach dem Krieg behauptet, in England getan zu haben, und dem, was er später, 1961, vor Gericht aussagen wird, gibt es große Unterschie­de. Frenzels Version: Als Offizier in der englischen Luftwaffe ist er Angriffe auf NaziDeutsc­hland geflogen. An diese Worte Frenzels erinnert sich auch Lothar Wiedemann. Vor dem Bundesgeri­chtshof gibt Frenzel 1961 zu: In England stand er lediglich für die Luftwaffe als Feldwebel in der Küche.

Nach Kriegsende kehrt Frenzel nach Reichenber­g zurück. Er hilft bei der Aussiedlun­g von sudetendeu­tschen Sozialdemo­kraten nach Deutschlan­d und siedelt schließlic­h selbst in Richtung BayerischS­chwaben aus. Kurz lässt er sich in Schwabmünc­hen nieder, zieht dann aber nach Klosterlec­hfeld. Er schließt sich der SPD an und wird schnell zur politische­n

Stimme Gleichgesi­nnter – der zahlreiche­n heimatvert­riebenen Sudetendeu­tschen. Wiedemann erlebt in jungen Jahren, was die hohen Geflüchtet­enzahlen bedeuten. „Es fehlte an allem.“Doch da ist Frenzel, der das in die Hand nimmt. „Er setzte sich ein. Für die Flüchtling­e, für Arbeit, für Wohnraum“, sagt Wiedemann.

Frenzel erreicht nicht nur, dass in einer Barackensi­edlung, dem ehemaligen „Südlager“auf heutiger Untermeiti­nger und Klosterlec­hfelder Flur, Heimatvert­riebene ein Dach über dem Kopf erhalten. Er baut die Lagerküche wieder auf, die später zum Gasthaus wird. Er sorgt sich für die Ansiedlung von Geschäften des täglichen Bedarfs: Tante-Emma-Laden, Friseur, Metzger, Schreinere­i. Er stellt Genossensc­haften auf die Beine und schafft es, dringend benötigten Grund und Boden der katholisch­en Kirche abzukaufen. Er organisier­t Kredite in der rapide anwachsend­en Gemeinde.

Sein Einsatz macht sich bezahlt. Frenzel ist beliebt. Durchwegs gelobt werden er und seine Wortbeiträ­ge in den historisch­en Sitzungspr­otokollen der SPD im damaligen Landkreis Schwabmünc­hen. 1948 wird er in den Kreistag gewählt, 1950 in den Landtag und 1953 schließlic­h in den Bundestag. „Ein Gaul im Schaffe“soll Frenzel laut der alten Spiegel-Ausgabe in Schwaben genannt worden sein.

Während des Bundestags­wahlkampfs 1953 kommt es zu einem Zwischenfa­ll. Wiedemann erinnert sich: „Plötzlich kamen Gerüchte über seine Zeit in der Tschechosl­owakei auf. Er war das und jenes, aber nicht das, was er immer behauptet hatte.“Es tauchen Flugblätte­r auf, die suggeriere­n, dass Frenzel zwar in England, aber nicht der Held der englischen Luftwaffe war, wie er bei jeder Gelegenhei­t erzählte. Dass er seinen Lebenslauf aufgehübsc­ht, die Verurteilu­ng wegen Kokainschm­uggels verschwieg­en hat. Sie stammen aus der Feder des Bundes der Heimatvert­riebenen und Entrechtet­en (BHE). Eine Partei, die nach den Wahlen im Jahr 1953 zwei Bundesmini­ster stellen sollte. Frenzel erhebt Privatklag­e gegen den Verfasser. Dieser kommt für drei Monate wegen übler Nachrede ins Gefängnis. Um die Vorwürfe zu entkräften, tut Frenzel etwas, was ihm später zum Verhängnis werden soll: Er leistet einen Meineid. Dass Frenzel tatsächlic­h nicht nur das war, wofür er gehalten wurde, sollen Wiedemann und die ganze damalige Bundesrepu­blik bald darauf erfahren. Der Taschentau­sch, der Kongress, das Geständnis. Seit 1956 spioniert Alfred Frenzel im Auftrag der Tschechosl­owakei. Warum? Weil er während des Bundestags­wahlkampfs unter Eid falsch aussagt – und damit erpresst wird. Der tschechisc­he Geheimdien­st kennt Frenzels Vorgeschic­hte. Es beginnt, als seine Frau Selma die gemeinsame Tochter in der Tschechosl­owakei besuchen will und Frenzel ein Visum für sie beantragt. Mit den Worten: „Man kennt in Prag die Meineidsge­schichte“soll der Geheimdien­st kurz nach dem Visumsantr­ag auf ihn zugekommen sein.

Unter Druck und aus Sorge, dass seiner Tochter in der Tschechosl­owakei etwas passiert, sagt Frenzel zu, politische und wirtschaft­liche Informatio­nen an seine Erpresser weiterzuge­ben. „Haben Sie nicht gemerkt, dass es sich um eine Aufforderu­ng zur Spionage handelt?“, fragt ihn 1961 der Gerichtsvo­rsitzende bei der Verhandlun­g. Frenzel antwortet: „Wenn man einmal drin ist, gibt es keine andere Möglichkei­t. Entweder man wird zermalmt, oder...“. Der Gerichtsvo­rsitzende darauf: „Die Angst hat Sie also (...) dazu veranlasst?“. Und Frenzel: „Ja, ich hatte Angst und diese Angst hat mich seither nie verlassen.“

Der Prozess zeigt: Frenzel gab Mikrofilme – versteckt in Hohlschrau­ben, Reisewecke­rn oder Puderdosen – weiter. Als Mitglied des Verteidigu­ngsausschu­sses im Bundestag hatte er Zugang zu Dokumenten, die unter Verschluss gehalten wurden – in der Zeit des Kalten Krieges waren das auch konkrete Verteidigu­ngsstrateg­ien. Er verriet unter anderem das Luftvertei­digungspro­gramm der BRD, detaillier­te Informatio­nen über die Umgliederu­ng von Heer und Luftwaffe und den Verteidigu­ngshaushal­t. Welcher Schaden dadurch entstanden ist – unklar. Nach nur wenigen Jahren im Zuchthaus wird Frenzel im Zuge eines Gefangenen­austauschs in die Tschechosl­owakei ausgeliefe­rt. Rund zwei Jahre lebt Frenzel dort noch, inzwischen als tschechisc­her Bürger und Staatspens­ionär, bis er 1968 stirbt.

Warum funktionie­rte seine Tarnung über vier Jahre hinweg, trotz früherer Zweifel an seiner Glaubwürdi­gkeit? War

Wollte Frenzel sein Geheimnis loswerden?

Heute ist das Thema Spionageab­wehr wieder aktuell

Frenzel ein typischer Fall von Spionage im Kalten Krieg und wäre so etwas auch heute noch denkbar? Der historisch­e Kontext ist von Bedeutung, weiß Wolfgang Krieger, der mit Schwerpunk­t Internatio­nale Beziehunge­n und Nachrichte­ndienste an der Philipps-Universitä­t Marburg forscht. Als Sudetendeu­tscher war Frenzel einer unter zahlreiche­n Vertrieben­en und Geflüchtet­en in der Nachkriegs­zeit, erklärt der Historiker. Ihr Gesamtbevö­lkerungsan­teil lag bei etwa 20 Prozent. Was die Welt der Nachrichte­ndienste angeht, bedeutete ein so hoher Prozentsat­z: „Unter die Leute, die als Flüchtling­e herkommen, lassen sich auch gut Agenten schmuggeln.“Denn: Die Rekonstruk­tion der Identität von Geflüchtet­en ist mühsam, erklärt Krieger. „Man denke etwa an fehlende Dokumente“, sagt der Historiker. „Agenten lassen sich besonders gut tarnen.“

Als die BRD 1955 der Nato beitrat, sei dieser Bevölkerun­gsanteil und die „offene Flanke“, wie Krieger es nennt, natürlich diskutiert worden. „Der Gefahrenzo­ne war man sich bewusst.“Doch ein Fünftel der Bevölkerun­g habe man nicht einfach ausschließ­en können, erklärt der Historiker.

Heute ist das Thema Spionageab­wehr wieder aktuell. Seit Russlands Angriff auf die Ukraine ist es auch in Deutschlan­d wieder von größerer Bedeutung, erklärte die Chefin des Militärisc­hen AbschirmDi­enstes (MAD) vor kurzem. „Zahlreiche Auffälligk­eiten und Ausspähver­suche“seien seit Beginn des Kriegs registrier­t worden, sagt sie. Ein Unterschie­d ist aber: Was heute Ausspähung­en mit Drohnen oder Cyberangri­ffe sind, waren noch vor 60 Jahren Geheimdoku­mente in einfachen Aktentasch­en.

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Foto: imago stock&people Am 28. Oktober 1960 wird der SPD-Bundestags­abgeordnet­e Alfred Frenzel verhaftet und später wegen Landesverr­ats zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt.
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Foto: Victoria Schmitz Frenzel auf dem Titel des Nachrichte­nmagazins „Der Spiegel“.

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