„Nullpunkt“: Literarischer Kriegsbericht aus der Ukraine
Der ukrainische Autor Artem Tschech verarbeitete seine Zeit als Soldat im Roman Nullpunkt. Ein Literaturabend führte nun vor, welche Kraft die Literatur in Kriegszeiten haben kann.
Ulm Unter einer „Lesung“stellt man sich üblicherweise einen Autoren oder eine Autorin vor, der oder die längere Passagen aus einem Werk liest und dazu einige Fragen beantwortet. Die Veranstaltung im Haus der Donau, die von der Euopäischen Donauakademie, dem Literatursalon Donau und der Hotlist veranstaltet wurde, ging weit darüber hinaus. Denn eingeladen war der ukrainische Schriftsteller Artem Tschech, der in der Ukraine so etwas wie ein literarischer Popstar ist. Seine Geschichte wirkt geradezu symptomatisch für die Kulturschaffenden in der Ukraine: Eben noch war der junge Autor und Vater damit beschäftigt, Lesungen und neue Buchprojekte zu planen; im nächsten Moment wurde er als Soldat einberufen.
Auf der Bühne im Haus der Donau saßen neben Tschech auch seine Frau Iryna Zylik und Übersetzer Alexander Kratochvil. Durch den Abend führte der Verleger des Arco-Verlags, Christoph Haacker, der Tschechs Buch „Nullpunkt“herausbrachte. Ein Titel, der in diesem Jahr auf der „Hotlist“stand, dem alternativen Buchpreis der unabhängigen Verlagsszene.
2014 wurde Tschech als Soldat einberufen, kurz nach der widerrechtlichen Annektierung der Krim durch Russland. „Schreib, Tschech, schreib das alles auf!“wird ein Soldatenkollege dem jungen Mann bald darauf sagen, als sie in einer Kaserne der Dinge harren. Tschechs Schilderungen in „Nullpunkt“entstammen der Zeit des ersten Angriffs auf die Ukraine. Seither ist viel geschehen: Die Armee sei seitdem „wesentlich professioneller und schlagkräftiger“geworden, so Tschech.
Damals sei sie im Wesentlichen ein Haufen von alten Soldaten gewesen, die noch in Sowjetzeiten rekrutiert wurden und junge Burschen wie er selbst, die keine Ahnung hatten, wie sie ihr Land verteidigen sollten. Dieses Hineinwachsen in die Rolle eines Soldaten sei ihm schwer gefallen, berichtete der Autor. Fast noch schwerer aber fiel es ihm, bei Heimatbesuchen wieder ein „Ziviler“zu werden. „Es war, als hätte ich einen Schleier vor Augen, als könnte ich nichts mehr korrekt einordnen. Ich spürte Kiew, aber ich verstand es nicht mehr“. Sein Buch beschreibt minutiös, mitunter auch humorvoll die absurde, erschreckende, unbegreifliche Lage eines Menschen, der sein Heimatland verteidigen soll ohne zu wissen wie. Und der sich diese Aufgabe doch zunehmend zu Eigen macht.
Eine große Bereicherung bildete an diesem Abend auch Tschechs Ehefrau Iryna Zylik, selbst Lyrikerin und Filmemacherin. Ihre Filme (unter anderem „Die Erde ist blau wie eine Orange“, Regiepreis des Sundance Film Festivals 2020) waren auf zahlreichen internationalen Festivals zu sehen. In keinem Jahr war sie so oft auf Reisen, um ihre Arbeit vorzustellen, wie 2022. „Es ist jetzt unsere Aufgabe, unsere Kultur zu zeigen“, erklärte die energische junge Künstlerin. „Wir sind Geiseln des Kriegs. Aber unsere Kultur, unser Land ist mehr als das, was der Krieg jetzt bekannt macht. Es muss ein breiteres Verständnis für unsere Geschichte und unsere Kultur entstehen“.
Dazu konnte dieser Abend im Haus der Donau beitragen, insbesondere durch die sensible, kenntnisreiche Fragestellung von Christoph Haacker. Manch emotioneller Moment entstand, etwa bei der Frage, wie es dem 12-jährigen Sohn der Tschechs gehe? „Er kennt jetzt nur den Krieg; die Erinnerungen an die Zeit davor sind durch die aktuellen Geschehnisse verschüttet“, berichtete Iryna Zylik bewegt. In diesem Moment senkt Artem Tschech den Blick; man spürte das Ausmaß an Bedrückung und Kummer, den das vergangene halbe Kriegsjahr ausgelöst haben. Auch im Publikum, in dem zahlreiche Exilukrainer Platz genommen hatten. Für diese Empfindungen findet Zylik starke Bilder in ihrer Lyrik: „Wir beweinen jede verlorene Seele/jeden geknickten Zweig/als lebendiges Schild stehen wir im Kampf“.