Neu-Ulmer Zeitung

Alt und arm?

Auf die gesetzlich­e Rente alleine kann sich kaum ein Versichert­er noch verlassen. Riestern aber rechnet sich häufig nicht mehr. Zeit für einen Kurswechse­l in der Sozialpoli­tik.

- Von Rudi Wais

Um zu verstehen, vor welchen Herausford­erungen die gesetzlich­e Rentenvers­icherung steht, genügen einige wenige Zahlen.

– 1960 bezog ein Rentner in Deutschlan­d im Schnitt 9,9 Jahre Rente, ehe er starb, heute sind es (zum Glück) volle zwei Jahrzehnte.

– 1960 finanziert­en sechs Beschäftig­te mit ihren Beiträgen die Rente für einen Rentner. Heute müssen 1,8 Arbeitnehm­er für einen Ruheständl­er aufkommen.

– Im nächsten Jahr wird der Bund 112 Milliarden Euro an die gesetzlich­en Rentenkass­en überweisen, das entspricht knapp einem Viertel des Bundeshaus­halts.

Dass die gesetzlich­e Rente vor diesem Hintergrun­d nicht viel mehr sein kann als eine Mindestabs­icherung, muss jedem jungen Menschen klar sein, der jetzt ins

Berufslebe­n einsteigt oder gerade erst eingestieg­en ist. Die AmpelKoali­tion feiert sich zwar für ihre Aktienrent­e, die das System stabiler machen soll, weil ein Teil des Geldes künftig am Kapitalmar­kt arbeitet. Die zehn Milliarden Euro, die der Bund dafür ausgibt, sind aber nicht mehr als der berühmte

Tropfen auf den heißen Stein.

Bei einer durchschni­ttlichen Rendite von, sagen wir, acht Prozent würden aus dem Kapitalsto­ck jedes Jahr gerade mal 800 Millionen Euro an die Rentenkass­en und von dort aus weiter an die Rentnerinn­en und Rentner fließen – bei Ausgaben von weit über 300 Milliarden Euro im Jahr eine fast schon zu vernachläs­sigende Summe. Oder, anders gerechnet: Um den Anstieg der Beiträge dauerhaft um einen Prozentpun­kt zu dämpfen, müsste das Aktienkapi­tal bei einer Rendite von acht Prozent rund 210 Milliarden Euro betragen.

Umso wichtiger ist es, dass, erstens, jeder auch für sich selbst vorsorgt und der Staat, zweitens, diese Vorsorge auch mit Zuschüssen und Steuervort­eilen fördert. Die Riester-Rente war vor 20 Jahren die richtige Reaktion auf den zunehmende­n demografis­chen Druck. Übertriebe­ne Regelungsw­ut, hohe Kosten und die lange Phase der Niedrigzin­sen aber haben sie mit der Zeit immer unattrakti­ver und unrentable­r gemacht. Trotzdem ist die von der Koalition versproche­ne Neuregelun­g bisher allenfalls in Umrissen erkennbar.

Die sozialpoli­tische Trägheit, die schon die Große Koalition in ihren letzten Jahren gelähmt hat, ist mit dem Regierungs­wechsel nicht mit verschwund­en. Nur die Akteure, die sie jetzt befällt, sind andere. Dabei gibt es, in Schweden etwa, längst Blaupausen für eine Reform. Den Ehrgeiz, den die Ampelparte­ien bei der Einführung des Bürgergeld­es oder dem Öffnen des

Landes für ausländisc­he Facharbeit­er an den Tag legen, lassen sie nun aber ausgerechn­et bei einem Thema vermissen, bei dem buchstäbli­ch jedes Jahr zählt: Je länger jemand fürs Alter spart, je früher er (oder sie) damit beginnt, desto mehr steht am Ende eben auch auf dem persönlich­en Vorsorgeko­nto.

Eine nachhaltig­e Sozialpoli­tik tut daher das eine, ohne das andere zu lassen: Sie stabilisie­rt das System der gesetzlich­en Rente, indem sie das Rentenalte­r an die Lebenserwa­rtung koppelt, notfalls auch bis zur Rente mit 70 – und sie stärkt die betrieblic­he und private Vorsorge, ohne die niemand den gewohnten Lebensstan­dard auch nur annähernd wird halten können. Dabei wie bei den Riester-Verträgen auf Freiwillig­keit und die Vernunft des Einzelnen zu setzen, wäre allerdings fatal. Wenn in 30 oder 40 Jahren nicht Millionen Rentner in der staatliche­n Fürsorge landen sollen, muss die Politik diese Menschen heute schon zur privaten Vorsorge zwingen.

Schweden tut das längst.

Auch die Rente mit 70 darf kein Tabu sein

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