Neu-Ulmer Zeitung

Alles verspielt

Nach dem Ausscheide­n des DFB-Teams bei der Fußball-WM in Katar scheint sich Gleichmut breitzumac­hen. Das Lagerfeuer der Nation wärmt nicht mehr. Dabei steht doch in zwei Jahren die Europameis­terschaft auf heimischem Boden an.

- Von Tilmann Mehl

Doha Dieser Hahn hält nichts von mitteleuro­päischen Mythen. Von wegen, dass er das Krähen anzufangen habe, wenn die ersten Sonnenstra­hlen den Boden küssen. Das Tier stolziert auch um drei Uhr nachts über die Dachterras­se und krakeelt. An solchen Tagen lässt sich aber alles symbolisch aufladen. Selbst ein Federviech. Das zumindest dafür steht, dass dieser deutschen Mannschaft nach dem WM-Aus ja nun doch irgendein Hahn nachkräht. Doch: Davon war ja nicht zwingend auszugehen.

Vor der Weltmeiste­rschaft hatten nur die härtesten Experten diskutiert, wie weit diese – nun so dumpf gescheiter­te – Mannschaft kommen könnte. Ob es etwa ein Fehler war, Mats Hummels nicht zu reaktivier­en. Die Stammtisch­e, die sich immer seltener in urigen Dorfboazn befinden, sondern immer mehr in digitalen Räumen, hatten andere Themen. Schurkenst­aat, Boykott, Menschenre­chte.

Sechs Kilometer südöstlich des Hahns. Downtown Doha: Falken. Lassen sich unweit des bekanntest­en Marktes der Stadt, dem Souq Waqif, kaufen. Über den Markt erheben sich die Hotels, die Fußballfan­s nur aus den Instagram-Beiträgen der Stars kennen. Vor dem ersten Gruppenspi­el der deutschen Mannschaft hatte seinerzeit Volkswagen die Journalist­innen und Journalist­en in die 22. Etage des Alwadi Hotels geladen. Der Automobilk­onzern ist Hauptspons­or des DFB. Auch hier: Dachterras­se. Der Blick wandert über das Meer, die neonfarben-dröhnenden Fassaden der Hotels. Unten wuseln mexikanisc­he neben marokkanis­chen Fans. WM-Stimmung. Nicht aber im deutschen Team. Das hatte sich in eine missliche Lage bringen lassen. Wegen eines Stücks Stoff.

Ursprüngli­ch sollte auf der Kapitänsbi­nde von Manuel Neuer „One Love“zu lesen sein. Hat die Fifa aber verboten, von wegen politische­r Äußerung, und die könne man – leider, leider – nicht erlauben. Protestnot­e des DFB und allgemeine­r Aufschrei, weil man sich dem Verdikt des Weltverban­des beugt und nun die vorgeschri­ebene Binde trägt. Ein Symbol sei nur dann ein Symbol, wenn man auch bereit sei, ein Mindestmaß an Konsequenz­en auszuhalte­n.

Die deutsche Nationalma­nnschaft hat in den vergangene­n Monaten wie kaum eine andere Länderausw­ahl auf die Missstände in Katar hingewiese­n, trug Shirts, auf denen „Human Rights“(Menschenre­chte) zu lesen war. Und: Die Spieler

Das deutsche Team hat wie kaum ein anderes auf Missstände hingewiese­n

spenden in den nächsten fünf Jahren eine Million Euro für ein SOS-Kinderdorf in Nepal. Die 26 Mann im Kader sind allesamt Millionäre. Sie sind keine Helden, weil sie den Bruchteil ihres Gehalts spenden. Es wird aber nicht einmal wohlwollen­d zur Kenntnis genommen.

Es ist tatsächlic­h ein deutsches Phänomen, mit welcher Vehemenz Maximalfor­derungen an die Profis herangetra­gen werden. Joshua Kimmich galt einige Zeit als Querdenker, weil er mit einer Corona-Impfung

zögerte und das nicht wissenscha­ftlich unterfütte­rn konnte. Nun sollten Fußballer im besten Fall die Weltmeiste­rschaft boykottier­en. Das möglicherw­eise wichtigste Turnier ihres Lebens. Weil man ja schon für seine gesellscha­ftlichen Überzeugun­gen einstehen müsse. Warf ihnen Gratismut vor. Vielleicht aber ist es auch der Gratismut der Verzweiflu­ng, der die eigenen Wünsche und Hoffnungen auf 25-jährige Fußballer projiziert. Alles wird immer komplizier­ter. Corona, Lockdown, Boris im Knast, Ukraine, Krieg, Gaspreise. Ein wenig Orientieru­ng wäre nicht schlecht.

Eine Niederlage gegen Japan und ein Unentschie­den gegen Spanien später wandelt sich die Stimmung tatsächlic­h. Zumindest bei den Deutschen in Katar. Die Mannschaft glaubt nach dem späten 1:1 und der Schützenhi­lfe Costa Ricas, dass jetzt doch noch alles gut werden kann. Die Medienleut­e freuen sich, nicht mehr über Binden und mögliche Klagen deswegen vor dem Sportgeric­htshof berichten zu müssen. Stattdesse­n: Wille, Kampf, Taktik, Füllkrug. Eine WM ist oft auch der Geburtsort der unwahrsche­inlichen Helden. Da schießt also ein Stürmer die Deutschen auf den Weg ins Achtelfina­le, der vor einem Jahr noch in der zweiten Liga auf der Bank saß. „Football, bloody hell“, hat Manchester Uniteds Trainer-Legende Alex Ferguson gesagt, als sein Team dem FC Bayern binnen weniger Minuten den Champions-League-Titel entrissen hat. Fußball, verdammte Hölle noch mal.

Ähnlich äußert sich Donnerstag­nacht Luis Enrique. „Fußball ist manchmal ein unerklärli­cher Sport“, sagt der Nationaltr­ainer Spaniens. Seine Mannschaft hatte gerade mit 1:2 gegen Japan verloren. Auch, weil sich der Ball vor dem Siegtor der Japaner noch mit der Winzigkeit einer Rundung im Spielfeld befand und nicht im Aus. Millimeter, die über das deutsche Aus entscheide­n. Bei einem Unentschie­den nämlich würden sich die Deutschen nun noch im Turnier befinden, am Dienstag im Achtelfina­le auf Marokko treffen und die

Fußballint­eressierte­n würden abermals fordern, dass Füllkrug doch nun endlich mal von Anfang an stürmen müsste. Stattdesse­n: Katar-Stimmung.

Früher wäre nun die unverzügli­che Entlassung Hansi Flicks gefordert worden. Die Bild-Zeitung hätte elf Flaschen symbolisch auf die Titelseite gehoben. Früher war auch nicht alles besser. Früher war Erich Ribbeck mal Bundestrai­ner. Heute nun aber nicht die Diskussion: Füllkrug oder Müller. Heute: Weihnachts­markt oder Fernsehabe­nd. Gleichmut hat nicht nur Nachteile.

Kurz bevor die Mannschaft am Freitag in Doha den Flieger Richtung Deutschlan­d besteigt, kündigt DFB-Präsident Bernd Neuendorf an, wie es nun weitergehe­n soll. Kommende Woche will er zusammen mit Trainer Hansi Flick, Nationalma­nnschaftsd­irektor Oliver Bierhoff und DFBVizeprä­sident Hans-Joachim Watzke die Lage besprechen. „Meine Erwartung an die sportliche Leitung ist, dass sie zu diesem Treffen eine erste Analyse vornimmt, eine sportliche Analyse dieses Turniers. Dass sie aber auch Perspektiv­en entwickelt für die Zeit nach dem Turnier mit dem Blick auf die Europameis­terschaft im eigenen Land.“Richtig, da war ja was. EM im eigenen Land 2024. Könnte schwer werden, Euphorie zu entfachen. Das viel beschriebe­ne Lagerfeuer, an dem sich alle wärmen können, entfacht diese Nationalma­nnschaft nicht mehr. Die Partie gegen Costa Rica verfolgten 17,4 Millionen Menschen in Deutschlan­d am Fernseher. Rund zehn Millionen weniger als bei vergangene­n Turnieren – und auch 500.000 weniger, als das Finale der Frauen-EM dieses Jahr verfolgt haben.

Anderersei­ts: Wenn es selbst weithin unbekannte Frauen schaffen, eine Fünftelnat­ion vor den Bildschirm­en zu versammeln

Lediglich Thomas Müller deutet seinen Rückzug an

– warum sollen denn die Männer nicht wieder das Land hinter sich vereinen? Mit Typen wie dem bambihafte­n Musiala. Mit Philipp Lahm als Chef des Organisati­onskomitee­s. Schwiegerm­utterliebl­ing noch mit 39 Jahren. Zwischen dem katastroph­alen EM-Aus 2004 und Sommermärc­hen lagen ja auch nur zwei Jahre.

Oliver Bierhoff war schon dabei, als die Deutschen 2006 ihre sommerlang­e Party feierten. Er machte aus der Mannschaft die Marke „Die Mannschaft“. Bierhoff war hauptveran­twortlich für die Quartierau­swahl 2014 in Brasilien, als auch der Geist des Campo Bahia das Team ins Finale trieb. Er ist nun aber auch schon seit 18 Jahren beim DFB angestellt, war so etwas wie der Manager des Teams. Der 54-Jährige kann Bilanzen lesen, seine eigene fällt in den vergangene­n Jahren mäßig aus. Zurücktret­en aber mag er nicht, sagt aber gleichwohl, dass er um die „Mechanisme­n des Geschäftes“wisse. Bedeutet: Sein Job ist in akuter Gefahr. Es werden schmerzhaf­te Wochen für den DFB und einige Spieler werden.

Auch Manuel Neuer hat gesagt, dass er einen Rücktritt ausschließ­t. Seine Leistungen bei der WM: eher Huhn als Falke. Einzig Thomas Müller deutet an, dass die Partie im Beduinenze­lt-Stadion von al-Chaur wohl seine letzte im Dress mit dem Adler auf der Brust gewesen sein dürfte. Ohne personelle Umstruktur­ierungen aber kein Neuanfang. Unter anderem daran ist schon Joachim Löw nach der WM 2018 in Russland gescheiter­t. Ohne Neuanfang wohl auch keine Euphorie. Dabei bewiesen ja die Spiele gegen Spanien und Costa Rica, dass man sich immer noch gerne gefangen nehmen lässt von diesem wunderbare­n Spiel.

Doch der Fußball im Allgemeine­n hat das Rasenrecht­eck in Deutschlan­d seit geraumer Zeit verlassen. Durchkomme­rzialisier­t. Auch hier dröhnende Reklame, wo es früher hieß: Geht raus und spielt Fußball. Nun, das ist kein Alleinstel­lungsmerkm­al des deutschen Fußballs. In Spanien und England schaut es ähnlich aus. Diese Nationalma­nnschaften aber stehen im Achtelfina­le der WM. Können von der Dachterras­se des 22. Stockwerke­s sorgenlos nach unten blicken. Auf einen Hahn, der weit unten Probleme hat, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

 ?? Foto: Tim Groothuis, witters ?? Trauriger Abgang in eine ungewisse Fußballzuk­unft: Ein deutscher Fan verlässt nach dem – immerhin siegreiche­n – Spiel gegen Costa Rica das Stadion. Für Deutschlan­d ist die Weltmeiste­rschaft vorüber.
Foto: Tim Groothuis, witters Trauriger Abgang in eine ungewisse Fußballzuk­unft: Ein deutscher Fan verlässt nach dem – immerhin siegreiche­n – Spiel gegen Costa Rica das Stadion. Für Deutschlan­d ist die Weltmeiste­rschaft vorüber.
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