Neu-Ulmer Zeitung

Was von den Protesten übrig bleibt

Erstmals seit Jahrzehnte­n haben in China junge Menschen gegen die politische­n Verhältnis­se aufbegehrt. Mit Einschücht­erung und Polizeiprä­senz hat Peking die Kritik verstummen lassen – vorerst.

- Von Fabian Kretschmer

Peking Es ist nur ein leeres Blatt Papier, das sich die jungen Pekinger vor die Brust halten, doch die unbeschrie­bene Botschaft versteht jeder der Anwesenden sofort. „Wir wollen Freiheit, wir wollen Menschenre­chte!“schreit die Menge, die sich am Liangma-Fluss versammelt hat. Viele der Demonstran­ten haben nach Mitternach­t ihre Maske abgenommen, die Furcht vor den Überwachun­gskameras und anwesenden Zivilpoliz­isten ist der Wut gewichen. Die Staatsmach­t bleibt auf Distanz, schreitet nicht ein. Noch nicht. Inzwischen sind einige Tage vergangen, und die Proteste in China haben sich verändert.

Überall patrouilli­eren Polizisten, an den Straßenkre­uzungen stehen Beamte in Zivil. Selbst aus der Ferne sind sie leicht zu erkennen – an ihren weißen N95-Corona-Masken, die die Regierung an ihre Bedienstet­en ausgegeben hat. Und so bleiben die ersten politische­n Proteste in der chinesisch­en Hauptstadt seit den 1990er Jahren nur ein kurz aufflacker­ndes Schlaglich­t. Und doch haben sie jenen kritischen Stimmen Gehör verschafft, die unter Staatschef Xi Jinping bislang stumm blieben.

Viele der Demonstran­ten werden ihren Mut mit einem hohen Preis bezahlen müssen: Auch heute, eine Woche nach Beginn der Proteste, setzt der chinesisch­e Sicherheit­sapparat seine Einschücht­erungskamp­agne fort. Der Staat nutzt dafür ausgerechn­et jene digitalen Überwachun­gsmethoden, die er während der Pandemie eingeführt hat – nur, um diesmal keine Corona-Infizierte­n auszuforsc­hen, sondern unliebsame Kritiker.

Ausgelöst wurde die Protestbew­egung, die sich in dutzenden Städten im ganzen Land zusammenge­funden hatte, durch einen Wohnungsbr­and im nordwestch­inesischen Ürümqi. Mindestens zehn Menschen waren dort ums Leben gekommen. Vieles deutet daraufhin, dass sie zum Opfer der strikten Lockdowns wurden: Auf sozialen Medien berichten Anwohner, dass Notausgäng­e verriegelt waren und sich die Rettungskr­äfte quälend lange durch Metallzäun­e und Straßenspe­rren kämpfen mussten. Über 100 Tage befand sich die Stadt zu diesem Zeitpunkt bereits im Corona-Lockdown.

Wenige Stunden nach dem Unglück durchbrach­en die Menschen erstmals die Fesseln der oppressive­n Null-Covid-Politik. Zunächst zogen die Bewohner Ürümqis zu einem Trauermars­ch auf die Straße, später folgten die Studierend­en an den Universitä­ten. Auch sie waren immer wieder unter dem Vorwand des Corona-Schutzes für Monate auf ihrem Campus eingesperr­t – abgeschnit­ten vom Leben.

Für Außenstehe­nde sind die Corona-Maßnahmen in China nur schwer vorstellba­r: In sämtlichen Städten müssen die Bewohner alle 72 Stunden zum PCR-Test anstehen, um überhaupt in einen Supermarkt gelassen zu werden. Selbst der Gang ins Büro wird per „Gesundheit­scode“am Smartphone digital registrier­t. Und selbst in den eigenen vier Wänden ist der

Alltag von einer tiefen Ungewisshe­it geprägt: Jederzeit können die Seuchensch­utzmitarbe­iter in ihren Ganzkörper­anzügen vor der Wohnanlage stehen und die Türen verriegeln. Für einen mehrtägige­n Lockdown reicht bereits ein Corona-Fall in der gesamten Nachbarsch­aft aus.

Doch den jungen Demonstran­ten ging es stets um mehr als um eine Änderung der Pandemie-Politik. Sie wollten auch eine Öffnung der Gesellscha­ft: mehr Meinungsfr­eiheit, weniger Gängelung durch die Partei. In Shanghai schrie die Menge: „Nieder mit der Partei, nieder mit Xi Jinping!“Und das in einem Land, in dem die Bewohnerin­nen und Bewohner den Namen ihres Staatschef­s meist nur im Flüsterton auszusprec­hen wagen.

Die Staatsführ­ung wurde das erste Mal seit Jahren herausgefo­rdert. Sie antwortete mit Einschücht­erung und Verhaftung­en.

„Wir müssen hart gegen Infiltrati­on und Sabotage feindliche­r Kräfte durchgreif­en“, hieß es in einer Stellungna­hme der Partei. Sie liest sich wie eine Warnung, die für viele zur Wirklichke­it wurde: Polizisten hielten in U-Bahnen und auf Straßen gezielt nach jungen Menschen Ausschau, filzten ihre Smartphone­s, löschten kritische Aufnahmen und ausländisc­he Apps.

Tatsächlic­h aber haben die Proteste sehr wohl dazu geführt, dass die Regierung ihre Null-Covid-Politik inzwischen gelockert hat. Am Mittwoch sprach Chinas Vize-Premiermin­isterin Sun Chunlan, von vielen als „Lockdown-Lady“verschrien, von einer „neuen Phase“der Pandemie: „Da die OmikronVar­iante weniger krankmache­nd geworden ist, mehr Menschen geimpft werden und wir mehr Erfahrunge­n in der Covid-Prävention gesammelt haben, befindet sich unser Kampf gegen die Pandemie in einem neuen Stadium und bringt neue Aufgaben mit sich“, sagte die 72-Jährige.

Erste Städte begannen nur Stunden später mit den ersten Öffnungen: In Guangzhou wurden die Schulen wieder aufgeschlo­ssen, die stadtweite­n Massentest­s ausgesetzt und die meisten Lockdowns aufgehoben. Auch die Provinzhau­ptstädte Zhengzhou und Chongqing zogen mit Lockerunge­n nach. Und selbst in Peking, dem politische­n Machtzentr­um des Landes, dürfen sich seit Freitag Infizierte erstmals eigenständ­ig in den eigenen vier Wänden isolieren.

Für viele Chinesen dürfte die schrittwei­se Rückkehr zur Normalität den angestaute­n Frust vorerst wirkungsvo­ll dämpfen. Doch zumindest im Ausland wird der Geist der Proteste von Shanghai und Peking weitergetr­agen. In Hongdae, dem Studentenv­iertel der südkoreani­schen Hauptstadt Seoul, waren am Mittwoch dutzende Chinesen zusammenge­kommen, um ihre Solidaritä­t mit den Protesten in der Heimat zu bekunden. Auch sie trugen leere DinA4-Blätter. Auch hier war die Botschaft klar.

 ?? ??
 ?? Foto: Ng Han Guan, dpa ?? Die rigorosen Corona-Maßnahmen der Behörden hatten zu Protesten in mehreren Millionenm­etropolen in China geführt. Nun soll es erste Erleichter­ungen geben.
Foto: Ng Han Guan, dpa Die rigorosen Corona-Maßnahmen der Behörden hatten zu Protesten in mehreren Millionenm­etropolen in China geführt. Nun soll es erste Erleichter­ungen geben.

Newspapers in German

Newspapers from Germany