Eugen Ruge: Metropol (107)
Roman von Eugen Ruge
Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angeblichen Hochverräter zu rechtfertigen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugten Kommunisten. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwinden nach und nach…
© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg
Bei Ihrer kommunistischen Ehre?
Ja, bei meiner kommunistischen Ehre.
Anzeigen wird er dieses Schwein, nimmt Wassili Wassiljewitsch sich vor. Erpressung, Bedrohung. Widerstand gegen die Staatsgewalt.
Sie sind ein guter Mensch, Genosse General.
Ich danke Ihnen! Meine ganze Familie dankt Ihnen! Mein Vater war ein alter Bolschewik. Er war im Bürgerkrieg… Wir sind in Sokolniki.
Wie war noch gleich die Adresse?
Fahren Sie bis zu der Ecke da vorn, da bin ich am Ziel, lügt Wassili Wassiljewitsch. Auf keinen Fall will er, dass dieser Irre sieht, wo er hingeht.
Der Irre hält an, holt einen Quittungsblock hervor, kritzelt etwas darauf. Reicht den Zettel Wassili Wassiljewitsch. Der faltet ihn sauber und steckt ihn in die Brusttasche. Der Irre streckt ihm die Hand entgegen.
Ich danke Ihnen, Genosse General. Ich werde Ihnen bis an mein Lebensende dankbar sein!
Und das ist bald, denkt Wassili Wassiljewitsch, während er dem Irren die Hand schüttelt.
Die Gegend ist gespenstisch, auf der linken Seite der offenbar gerade verbreiterten Straße sind sämtliche Häuser abgerissen. Um rasch außer Sicht zu kommen, biegt Wassili Wassiljewitsch rechts ab: Ininski pereulok. Links eine Art Park oder Wildnis. Wassili Wassiljewitsch steuert entschlossen darauf zu, geht ein paar Schritte in den Park. Wartet, bis der Irre abgefahren ist. Dann zieht er den Zettel aus der Brusttasche, zerreißt ihn, wirft die Schnipsel in den Schnee.
Nein, natürlich wird er ihn nicht anzeigen. Denn dann müsste er erklären, warum er hier ist.
Wassili Wassiljewitsch entleert seine Blase, versucht, sich zu orientieren. Perewedenowski pereulok. Das müsste ein Stück weiter nördlich sein. Er verlässt den Park, überquert den breiten Prospekt. Stapft durch den Schnee auf der anderen Seite, wo es noch keinen Gehweg gibt. Marschiert zwischen halb abgerissenen Hinterhäusern durch. Ist denn hier kein Mensch, den man fragen kann?
In einem der Höfe scheint ein Feuer zu brennen. Aber Wassili Wassiljewitsch entscheidet sich, nicht in den Hinterhof zu gehen, wer weiß, was da für Leute herumlungern. Plötzlich steht ein halbwüchsiger Junge vor ihm, ganz offensichtlich ein obdachloses, verwahrlostes Kind. Vor solchen muss man sich in Acht nehmen. Sag mal, junger Mann, wo ist denn hier der Perewedenowski pereulok?
Der junge Mann zuckt mit den Schultern.
Da muss es eine Fabrik geben für technisches Papier oder so, fügt Wassili Wassiljewitsch hinzu.
Das ist da vorn, sagt das Kind mit einer Handbewegung in die Richtung, in die Wassili Wassiljewitsch ohnehin hat gehen wollen. Er bedankt sich knapp, geht weiter. Die Straßenbeleuchtung funktioniert nicht. Unwillkürlich beschleunigt er den Schritt, aus Furcht, der Junge könnte seine Truppe zusammentrommeln und ihn verfolgen. Auf einmal ist er im Nowy Perewedenowski pereulok, der Neuen Perewedenowski-Gasse. Das sieht schon mal gut aus.
Aber zweihundert Meter weiter ist die Welt mit Brettern vernagelt: ein großer Zaun, dahinter Gleise, irgendein unbegreifliches Gelände. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zurückzugehen.
Menschen, die man
fragen könnte, sind weit und breit keine zu sehen. In der Straße stehen ein paar schwarze, windschiefe Blockhäuser. Wassili Wassiljewitsch entschließt sich zu klopfen. Eine ältere Frau öffnet ihm und fängt bei seinem Anblick sofort an zu greinen: Verschon uns, Väterchen, wir haben nichts getan! Wir sind unschuldig! Der liebe Gott ist mein Zeuge …
Ein Mann kommt heraus: Guten Tag, was wünschen Sie?
Wir suchen den Perewedenowski pereulok, die technische Papierfabrik.
Zum Feiertag, fragt der Mann. Ja, zum Feiertag, antwortet Wassili Wassiljewitsch.
Zurück, zweite links, sagt der Mann und knallt die Tür zu.
Er muss die Straße verpasst haben, wahrscheinlich gibt es kein Schild. Wassili Wassiljewitsch geht zurück, mit ungutem Gefühl. Und tatsächlich sieht er dort hinten, wo er den Straßenjungen nach dem Weg gefragt hat, drei Gestalten auf die Straße treten, ein Kind, zwei
Halbstarke. Die haben es abgesehen auf ihn, weiß Wassili Wassiljewitsch sofort.
Er verbirgt sich hinter einem Stromkasten, blickt sich um. Soll er vor drei Jugendlichen davonlaufen? Aber wahrscheinlich haben sie Messer dabei, und wahrscheinlich werden sie von ihnen Gebrauch machen, weil sie davon ausgehen, dass er eine Pistole trägt. Womöglich haben sie es abgesehen auf die Pistole? Die er nicht dabeihat.
Hinter dem Stromkasten ist eine Zaunlücke. Wozu den Helden spielen. Wassili Wassiljewitsch quetscht sich durch das Loch, es ist leider sehr schmal. Sein Rotbanner-Orden bleibt an einer Latte hängen, reißt ab, verschwindet irgendwo im Schnee. Der einzige Orden, den er bisher bekommen hat, für seine Verdienste im Bürgerkrieg. Wassili Wassiljewitsch tastet danach, findet ihn nicht, scheiß drauf.
Er hastet quer durch das Grundstück. 108. Fortsetzung folgt