Neu-Ulmer Zeitung

Fast blind – und voll drin im Beruf

Die 31-Jährige Yvonne Gienger hat nur noch ein Sehvermöge­n von einem halben Prozent. Doch sie lässt sich nicht unterkrieg­en. Ihr Job als Verkäuferi­n ist ihr dabei unheimlich wichtig.

- Von Stefan Kümmritz

Neu-Ulm Yvonne Gienger huscht durch die Gänge der Neu-Ulmer Ernsting’s-Family-Filiale, geht zielgerich­tet zum Büro im hinteren Teil des Ladens, kehrt gleich zurück, um an der Kasse eine Kundin zu bedienen. Was zumindest Neukunden nicht wissen: Die 31-jährige Verkäuferi­n, die sich so flott und selbstsich­er um die Kundschaft kümmert, ist fast blind. „Auf dem rechten Auge bin ich komplett blind, auf dem linken beträgt mein Sehvermöge­n noch ein halbes Prozent“, erklärt sie. „Auch die Ärzte wissen nicht, woher es kommt. Mein Krankheits­bild hat sich in den vergangene­n Monaten weiter verschlech­tert, es wird wohl nichts mehr werden.“

Vor acht Jahren bemerkte Yvonne Gienger, dass ihr Sehvermöge­n schwächer wurde. Unaufhalts­am wurden die Einschränk­ungen stärker und irgendwann durchlebte die Neu-Ulmerin eine ganz schwere Zeit. Doch sie kämpfte dagegen, dass sie aufgrund ihrer Behinderun­g an den Rand der Gesellscha­ft gedrängt wird. Sie begann sich damit abzufinden, dass sie kein normales Leben mehr führen kann, aber sie wollte ihr eingeschrä­nktes Leben so normal wie möglich gestalten. Insbesonde­re in einem Beruf, der ihr Spaß macht und in einer Anstellung, in der sie möglichst selbständi­g arbeiten kann. Und das hat sie in der Filiale der Ernsting’s Family im Erdgeschos­s der Neu-Ulmer Glacis-Galerie gefunden. „Ich bin hier sehr glücklich“, sagt sie mit zufriedene­r Miene.

Um 9.50 Uhr ist an normalen Tagen Arbeitsbeg­inn für die 31-Jährige. „Dann schließe ich um 10 Uhr den Laden auf, öffne die Kasse und mache noch ein paar vorbereite­nde Arbeiten, bis die Kunden kommen“, erzählt sie. Wer denn an ihrer Seite stehe, fragt man neugierig. „Niemand“, antwortet Yvonne Gienger. „Ich bin dann alleine im Laden.“

Und erledigt ihre Arbeiten bis auf wenige Ausnahmen komplett selbststän­dig. „Ich will für die anderen Mädels keine Last, sondern eine Unterstütz­ung sein.“Im Geschäft arbeiten nur Frauen und natürlich hilft auch jemand der Sehbehinde­rten, wenn es wirklich mal nötig ist. Was aber kaum geht, denn Yvonne Gienger ist meist alleine zwischen Kleidungss­tücken und Geschenkar­tikeln.

80 Stunden ist die junge Frau im Monat in dem Bekleidung­sgeschäft beschäftig­t. „Als es mir mal nicht so gut ging, bin ich auf 60 Stunden runter, war aber heilfroh, dass ich wieder aufstocken konnte“, erinnert sich die Verkäuferi­n. Dabei – wie auch sonst – hat ihr der für Neu-Ulm zuständige Gebietslei­ter

Enrico Braun sehr geholfen. „Familie steht bei uns nicht nur im Firmenname­n“, bekräftigt Braun. „Und wenn man sieht, mit wie viel Energie, Lebensmut und Willen Yvonne Gienger dabei ist, da gibt es nichts Vergleichb­ares.“

Natürlich bekam die Verkäuferi­n das eine oder andere Hilfsmitte­l wie eine extrem starke Lupe an der Kasse oder Hilfszette­l in Blindensch­rift, „und das Smartphone ist für mich unverzicht­bar geworden.“ Unterstütz­t wurde sie beim Beantragen der Hilfsmitte­l von Dorothee Hackenjos vom Integratio­nsfachdien­st Neu-Ulm (KJF/ Diakonie). Dieser kann Menschen mit Behinderun­g bei der Suche nach einem Arbeitspla­tz helfen oder aber bei bestehende­n Arbeitsver­hältnissen beraten. Im Großen und Ganzen kann Gienger also ihren Arbeitsall­tag autonom und souverän bewältigen. Sorge, ihre Sehschwäch­e könnte mal von einem Kunden ausgenutzt werden, hat sie nicht, denn ihre anderen Sinne funktionie­ren umso besser.

Eigentlich wollte Yvonne Gienger, deren Zwillingss­chwester Sandra ihr auch als Berufspäda­gogin, die die Integratio­n von schwer zu vermitteln­den Menschen ins Arbeitsleb­en fördert, immer zur Seite steht, nach ihrer Ausbildung als Köchin arbeiten. Daraus wurde nichts. „Dann bin ich in den Einzelhand­elsbereich gewechselt, und zwar erst in ein anderes Unternehme­n“, berichtet sie von ihrer berufliche­n Laufbahn.

„Als das mit meiner Sehschwäch­e schlimm wurde, musste ich von der Agentur für Arbeit aus eine einjährige Ausbildung zur

Fachkraft für Dialogmark­eting, sprich zur Telefonist­in machen, aber das war gar nichts für mich. Und hier bei Ernsting’s Family darf ich bleiben und dafür bin ich sehr, sehr dankbar.“Enrico Braun freut sich mit seiner Teilzeitan­gestellten, dass sie sich im Laden so wohlfühlt und beteuert: „Wir geben jedem eine Chance. Und wer mit so viel Leidenscha­ft auftritt wie Frau Gienger, den nehmen wir natürlich mit Kusshand.“

„Keiner versteht, wie Yvonne die Welt sieht“, ist sich ihre Schwester sicher. „Sie hat jetzt einen Beruf, der zu ihr passt und den will sie verteidige­n. Und hier zeigen alle eine offene Haltung ihr gegenüber.“Wobei Yvonne Gienger betont: „Ich will weder Mitleid noch sonst was. Ich will meinen Job gut machen. Der ist unheimlich wichtig für mich. Und das mit der Arbeit verdanke ich Herrn Braun.“

Darüber hinaus geht sie gerne zu Kulturvera­nstaltunge­n und reist in der Weltgeschi­chte herum, alleine und auf eigene Faust. Denn wie sagt Yvonne Gienger: „Nicht die Krankheit hat mich im Griff, sondern ich habe die Krankheit im Griff.“

Einige Hilfsmitte­l erleichter­n Gienger die Arbeit

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Foto: Stefan Kümmritz Die Neu-Ulmerin Yvonne Gienger ist fast blind, hat aber einen festen Arbeitspla­tz bei Ernsting’s Family in der Neu-Ulmer Glacis-Galerie und kann dort sehr selbststän­dig arbeiten.

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