Fast blind – und voll drin im Beruf
Die 31-Jährige Yvonne Gienger hat nur noch ein Sehvermögen von einem halben Prozent. Doch sie lässt sich nicht unterkriegen. Ihr Job als Verkäuferin ist ihr dabei unheimlich wichtig.
Neu-Ulm Yvonne Gienger huscht durch die Gänge der Neu-Ulmer Ernsting’s-Family-Filiale, geht zielgerichtet zum Büro im hinteren Teil des Ladens, kehrt gleich zurück, um an der Kasse eine Kundin zu bedienen. Was zumindest Neukunden nicht wissen: Die 31-jährige Verkäuferin, die sich so flott und selbstsicher um die Kundschaft kümmert, ist fast blind. „Auf dem rechten Auge bin ich komplett blind, auf dem linken beträgt mein Sehvermögen noch ein halbes Prozent“, erklärt sie. „Auch die Ärzte wissen nicht, woher es kommt. Mein Krankheitsbild hat sich in den vergangenen Monaten weiter verschlechtert, es wird wohl nichts mehr werden.“
Vor acht Jahren bemerkte Yvonne Gienger, dass ihr Sehvermögen schwächer wurde. Unaufhaltsam wurden die Einschränkungen stärker und irgendwann durchlebte die Neu-Ulmerin eine ganz schwere Zeit. Doch sie kämpfte dagegen, dass sie aufgrund ihrer Behinderung an den Rand der Gesellschaft gedrängt wird. Sie begann sich damit abzufinden, dass sie kein normales Leben mehr führen kann, aber sie wollte ihr eingeschränktes Leben so normal wie möglich gestalten. Insbesondere in einem Beruf, der ihr Spaß macht und in einer Anstellung, in der sie möglichst selbständig arbeiten kann. Und das hat sie in der Filiale der Ernsting’s Family im Erdgeschoss der Neu-Ulmer Glacis-Galerie gefunden. „Ich bin hier sehr glücklich“, sagt sie mit zufriedener Miene.
Um 9.50 Uhr ist an normalen Tagen Arbeitsbeginn für die 31-Jährige. „Dann schließe ich um 10 Uhr den Laden auf, öffne die Kasse und mache noch ein paar vorbereitende Arbeiten, bis die Kunden kommen“, erzählt sie. Wer denn an ihrer Seite stehe, fragt man neugierig. „Niemand“, antwortet Yvonne Gienger. „Ich bin dann alleine im Laden.“
Und erledigt ihre Arbeiten bis auf wenige Ausnahmen komplett selbstständig. „Ich will für die anderen Mädels keine Last, sondern eine Unterstützung sein.“Im Geschäft arbeiten nur Frauen und natürlich hilft auch jemand der Sehbehinderten, wenn es wirklich mal nötig ist. Was aber kaum geht, denn Yvonne Gienger ist meist alleine zwischen Kleidungsstücken und Geschenkartikeln.
80 Stunden ist die junge Frau im Monat in dem Bekleidungsgeschäft beschäftigt. „Als es mir mal nicht so gut ging, bin ich auf 60 Stunden runter, war aber heilfroh, dass ich wieder aufstocken konnte“, erinnert sich die Verkäuferin. Dabei – wie auch sonst – hat ihr der für Neu-Ulm zuständige Gebietsleiter
Enrico Braun sehr geholfen. „Familie steht bei uns nicht nur im Firmennamen“, bekräftigt Braun. „Und wenn man sieht, mit wie viel Energie, Lebensmut und Willen Yvonne Gienger dabei ist, da gibt es nichts Vergleichbares.“
Natürlich bekam die Verkäuferin das eine oder andere Hilfsmittel wie eine extrem starke Lupe an der Kasse oder Hilfszettel in Blindenschrift, „und das Smartphone ist für mich unverzichtbar geworden.“ Unterstützt wurde sie beim Beantragen der Hilfsmittel von Dorothee Hackenjos vom Integrationsfachdienst Neu-Ulm (KJF/ Diakonie). Dieser kann Menschen mit Behinderung bei der Suche nach einem Arbeitsplatz helfen oder aber bei bestehenden Arbeitsverhältnissen beraten. Im Großen und Ganzen kann Gienger also ihren Arbeitsalltag autonom und souverän bewältigen. Sorge, ihre Sehschwäche könnte mal von einem Kunden ausgenutzt werden, hat sie nicht, denn ihre anderen Sinne funktionieren umso besser.
Eigentlich wollte Yvonne Gienger, deren Zwillingsschwester Sandra ihr auch als Berufspädagogin, die die Integration von schwer zu vermittelnden Menschen ins Arbeitsleben fördert, immer zur Seite steht, nach ihrer Ausbildung als Köchin arbeiten. Daraus wurde nichts. „Dann bin ich in den Einzelhandelsbereich gewechselt, und zwar erst in ein anderes Unternehmen“, berichtet sie von ihrer beruflichen Laufbahn.
„Als das mit meiner Sehschwäche schlimm wurde, musste ich von der Agentur für Arbeit aus eine einjährige Ausbildung zur
Fachkraft für Dialogmarketing, sprich zur Telefonistin machen, aber das war gar nichts für mich. Und hier bei Ernsting’s Family darf ich bleiben und dafür bin ich sehr, sehr dankbar.“Enrico Braun freut sich mit seiner Teilzeitangestellten, dass sie sich im Laden so wohlfühlt und beteuert: „Wir geben jedem eine Chance. Und wer mit so viel Leidenschaft auftritt wie Frau Gienger, den nehmen wir natürlich mit Kusshand.“
„Keiner versteht, wie Yvonne die Welt sieht“, ist sich ihre Schwester sicher. „Sie hat jetzt einen Beruf, der zu ihr passt und den will sie verteidigen. Und hier zeigen alle eine offene Haltung ihr gegenüber.“Wobei Yvonne Gienger betont: „Ich will weder Mitleid noch sonst was. Ich will meinen Job gut machen. Der ist unheimlich wichtig für mich. Und das mit der Arbeit verdanke ich Herrn Braun.“
Darüber hinaus geht sie gerne zu Kulturveranstaltungen und reist in der Weltgeschichte herum, alleine und auf eigene Faust. Denn wie sagt Yvonne Gienger: „Nicht die Krankheit hat mich im Griff, sondern ich habe die Krankheit im Griff.“
Einige Hilfsmittel erleichtern Gienger die Arbeit