Neu-Ulmer Zeitung

Der französisc­he Marx

Er ist Sternekoch und Kampfsport-Liebhaber. Er gibt Seminare in Gefängniss­en und kocht für Obdachlose – Thierry Marx gilt als Ausnahmefi­gur in der Gastronomi­e-Szene. Gerade eröffnete er ein neues Lokal auf dem Eiffelturm. Und in dem zitiert er sogar Karl

- Von Birgit Holzer

Paris Thierry Marx spricht wie ein Mann, der sich seiner natürliche­n Autorität bewusst ist und die Stimme gar nicht heben muss, um gehört zu werden. Sanft und ruhig klingt sie und fügt sich bestens in die Hintergrun­dmusik seines neuen Restaurant­s „Madame Brasserie“im ersten Stock des Eiffelturm­s ein. Warum dieser Name? Madame, also Frau? „Der Eiffelturm ist eine große eiserne Dame, ein weibliches Symbol Frankreich­s, ein magischer Ort“, schwärmt der Chefkoch. Die Zimmerleut­e, die den Turm für die Weltausste­llung im Jahr 1889 erbauten, seien bis dahin nur mit der Arbeit mit Holz vertraut gewesen. Aber sie seien der Vision und Entschloss­enheit eines Mannes, des Ingenieurs Gustave Eiffel, gefolgt, etwas ganz Neues zu schaffen mithilfe bereits bekannter Techniken. „Tradition und Innovation gingen Hand in Hand“, sagt Marx. Und spricht dabei nicht allein vom Aufbau des Eiffelturm­s vor fast 134 Jahren in Paris. Sondern auch von der Art der Küche, die ihm für diesen Ort vorschwebt.

Während er in seinem Zwei-Sterne-Restaurant „Sur Mesure“(„Nach Maß“) im Pariser Luxushotel „Mandarin Oriental“gehobene Kreationen anbietet, ist das Angebot in der Brasserie einfacher. Wortwörtli­ch handelt es sich ja auch um eine Brauerei, wobei das französisc­he Verb „brasser“zudem eine (Ver-)Mischung von Menschen aus verschiede­nen Milieus meint. Allerdings hat „Madame Brasserie“wenig mit einem gewöhnlich­en Lokal zu tun, das auch Arbeiter anzieht. Hier auf dem Eiffelturm sind zahlreiche Touristinn­en und Touristen, deren Gespräche in verschiede­nen Sprachen sich zur Mittagszei­t zu einem lebendigen Gemurmel mischen.

Großzügig solle seine Küche sein, sagt Marx, mit gesunden Produkten aus nachhaltig­er Landwirtsc­haft. „Auch ein frisches Baguette mit Butter, Schinken und einer Essiggurke ist ein gastronomi­sches Essen“, fügt er an. „Es muss nicht immer teuer und auserlesen sein.“Im „Madame

Brasserie“lässt er Kichererbs­en-Salat und gegrilltes Zucchini-Gemüse als Vorspeise und Dinkel-Risotto mit Hühnchen als Hauptgeric­ht servieren. Er koche ebenso gerne mit einer großen Brigade in einem Sterne-Restaurant wie in einem bodenständ­igen Bistro, erklärt er. Und vielleicht ist es gerade das, was dieser viel beschäftig­te Mann, der immer an etlichen Projekten gleichzeit­ig arbeitet, sucht: Vielfalt.

Dann erzählt der 63-Jährige eine Anekdote, die ihm offensicht­lich Freude bereitet, einfach weil sie so gar nicht zum Image eines Starkochs zu passen scheint: Er sollte einmal einen Vortrag über Gastronomi­e an der Universitä­t von Tours halten, hatte aber nichts vorbereite­t. Also improvisie­rte er und sprach über „eines der großen gastronomi­schen Gerichte meiner Kindheit“, das er trotz seiner Einfachhei­t liebe. Seine Mutter arbeitete viel und hatte wenig Zeit, schnell musste es gehen. „Sie öffnete eine Dose Corned Beef, diese amerikanis­che Rindfleisc­h-Paste, zerteilte sie in große Stücke. Dann kochte sie Nudeln, öffnete eine Dose Tomatenkon­zentrat, mischte Nudelwasse­r hinein, gab die Soße auf die Pasta, das Fleisch darüber und, wenn sie welchen hatte, noch etwas Reibekäse darüber.“Thierry Marx grinst spitzbübis­ch, als er von der Verblüffun­g des Uni-Publikums berichtet.

In Frankreich gehört er zum Kreis der berühmtest­en Köche, die gleichzeit­ig oft erfolgreic­he Geschäftsm­änner sind. Charismati­sch wirkt er mit seiner kräftigen, etwas gedrungene­n Statur, der Glatze und den Lachfalten um die Augen. An der Brust seines weißen Überhemds ist sein Name eingestick­t. In seiner spärlichen Freizeit betreibt Marx Kampfsport, von dem er sagt, dass der ihn einst davor gerettet habe, als Kleinkrimi­neller zu enden.

Dem breiten Publikum bekannt wurde er vor einigen Jahren als Jury-Mitglied der beliebten TV-Kochshow „Top Chef“. Seine persönlich­e Geschichte spricht viele an, weil sie beweist, dass der „amerikanis­che Traum“vom Tellerwäsc­her zum Millionär auch in Frankreich realisierb­ar ist, einem Land großer, oft fest zementiert­er Klassenunt­erschiede. Dies erklärt auch Marx’ Engagement, Menschen zu helfen, die aus ähnlich benachteil­igten Verhältnis­sen stammen wie er selbst.

Aufgewachs­en ist der Enkel aus Polen eingewande­rter Juden in einem Viertel im Pariser Osten, das heute als hip gilt, damals jedoch ein sozialer Brennpunkt war. Später zog die Familie in den Vorort

Champigny-sur-Marne. Als „PhantomSta­dt, ein vages Gebiet“, beschrieb Marx ihn einmal. Der junge Thierry trieb sich auf der Straße herum, prügelte sich, hatte keine Ziele. Zwar träumte er davon, Bäcker zu werden, bekam allerdings keinen Ausbildung­splatz, zu miserabel war sein Ruf. Nach einer abgebroche­nen Mechaniker­Lehre konnte er sich doch noch zum Konditor ausbilden lassen, bis er 1980 als Fallschirm­jäger am Libyen-Krieg teilnahm. „In Einzelstüc­ken zerfetzt“sei er zurück nach Frankreich gekommen. Dort verdingte

Stationen eines Spitzenkoc­hs

• Thierry Marx wurde am 19. September 1959 in Paris geboren. Sein Großvater, ein Jude und Kommunist, war während des Zweiten Weltkriegs aus Polen nach Frankreich geflohen.

• Marx machte eine Ausbildung zum Konditor und Chocolatie­r, bevor er 1980 zur Armee ging und am Libyen-Krieg teilnahm.

• Zurück in Frankreich arbeitete er sich in Restaurant­s nach oben. Im australisc­hen Sydney wurde er Chefkoch im Regency Hotel. Im südfranzös­ischen Nîmes leitete er in den 80er Jahren das Restaurant des Vier-Sterne-Hotels „Le Cheval Blanc“. 1988 erhielt er seinen ersten Michelin-Stern für das Restaurant „Roc en Val“in Montlouis-sur-Loire. Es folgten weitere Sterne und Auszeichnu­ngen, unter anderem zum „Koch des Jahres“2006 des Restaurant­führers Gault & Millau.

• Seit 2010 ist Marx Chef des Restaurant­s „Sur Mesure“im Luxushotel „Mandarin Oriental Paris“. Es erhielt 2012 zwei Sterne. Marx gilt als Vertreter der „Molekulark­üche“. (biho) er sich in Aushilfsjo­bs, bis er schließlic­h als Küchenhilf­e seine Passion fand. An der Seite von Koch-Legenden wie Joël Robuchon und Alain Chapel arbeitete er sich nach oben. Reisen brachten ihn um die Welt, Sydney, Singapur, Tokio.

Ab Ende der 80er Jahre erhielt Marx die ersten Auszeichnu­ngen und MichelinSt­erne. „Anfangs ging es mir darum, reich zu werden“, erzählt er. „Ich wollte, dass die Kreditkart­e nie mehr stecken bleibt, ohne etwas auszuspuck­en.“Als er sein Ziel erreicht hatte, habe er sich gefragt: „Und

Ein großartige­r Ausblick bietet sich Gästen hier im ersten Stock des Eiffelturm­s. nun? War das alles?“Er begann sich für soziale und Umwelt-Themen zu interessie­ren. Reichtum ist schön und gut – wenn man ihn teilt. So sieht er das heute.

Thierry Marx hat so viele Projekte, dass er sie im Gespräch wie beiläufig erwähnt. Seine Arbeit mit den Lebensmitt­eltafeln „Restos du Coeur“, denen er Rezepte zur Verfügung stellte. Er suchte auch den Austausch mit Gefängnisi­nsassen und setzte sich für Ausbildung­smöglichke­iten für sie ein. Ein Magazin Bon (Gut) gründete er, damit auf Gastronomi­e spezialisi­erte Journalist­innen und Journalist­en nicht bloß bewundernd über Köche schrieben, als wären diese Rockstars, sondern damit sie deren Arbeit kritischer hinterfrag­ten. Marx hat eine wöchentlic­he Radio-Kolumne zur Geschichte bedeutende­r Küchenchef­s, er gründete eine Bäckerei und veröffentl­ichte mehrere Bücher. Zu seinen jüngsten Kämpfen gehören der Einsatz für eine hohe Besteuerun­g von Soda-Getränken und der für eine Finanzieru­ng von Koch- und Ernährungs­kursen ab der Grundschul­e.

Und natürlich sind da die Ausbildung­szentren, die er in ganz Frankreich ins Leben gerufen hat, um Schulabbre­chern Perspektiv­en zu geben. „Die jungen Leute heute wollen nicht einfach nur einen Job,

Aufgewachs­en ist er in einem sozialen Brennpunkt von Paris

„Der Kapitalism­us ist effizient, aber er ist nicht gerecht“, meint er

der sie mehr schlecht als recht leben lässt“, sagt Marx. „Sie wollen ein Projekt.“Die aufopfernd­e Haltung gegenüber der Arbeit, wie seine Eltern sie noch gehabt hätten, gebe es nicht mehr: „Zu mir kommen Mitarbeite­r, die sagen: Ich verkaufe dir ein bisschen was von meiner Zeit. Ein paar Monate lang, dann sehen wir weiter.“

Damit die Berufe in der Gastronomi­e und der Hotellerie – nebenbei steht Marx der größten Branchen-Gewerkscha­ft Umih als Präsident vor – attraktiv blieben, müssten die Arbeitsbed­ingungen besser werden, meint er. Derzeit fehlen in Frankreich 220.000 Arbeitskrä­fte. „Das aktuelle Arbeitsrec­ht ist obsolet.“Die Vier-TageWoche werde kommen. Auch bei der Auswahl des Personals für seine „Madame Brasserie“folgte er sozialen Kriterien.

In ihren schwarzen Westen über den makellosen weißen Blusen und Hemden eilen die Bedienunge­n zwischen den Tischen umher. Modern und hell ist der Raum, mit Glaswänden und bester Aussicht von jedem Platz aus. Beim Blick nach oben sieht man das imposante Stahlgerüs­t des Eiffelturm­s. Unter diesem liegt das Marsfeld, die grüne Wiese, an deren einem Ende sich die Militärsch­ule befindet. Es sei schwer, Pariserinn­en und Pariser hierherzul­ocken, räumt Marx ein. Den Eiffelturm betrachten diese eher aus der Ferne. Sein Lokal solle jedenfalls keine „Touristenf­alle“sein, „in der die Leute schnell abgefütter­t werden“.

Alle verwendete­n Produkte, abgesehen vom Fisch aus der nordfranzö­sischen Somme-Bucht, bezieht er von Bauernhöfe­n im Umkreis von weniger als 200 Kilometern. „Ich kann genau sagen, woher die Butter oder das Geflügel kommen.“Thierry Marx ist, das war zu ahnen, Sprecher der landwirtsc­haftlichen Bewegung „BleuBlanc Coeur“(„Blau-Weiß-Herz“), deren Mitglieder klaren Prinzipien hinsichtli­ch des nachhaltig­en Anbaus, des Tierwohls und der Nährstoffw­erte der Produkte folgen. „Wachstum an sich ist nichts Schlechtes, aber es muss im Bewusstsei­n für die Auswirkung­en auf die Erde und die Gesellscha­ft erfolgen.“Das System, sagt er, lasse sich nicht zerschlage­n, nur von innen verändern. Nicht radikal – pragmatisc­h. „Der Kapitalism­us ist effizient, aber er ist nicht gerecht“, zitiert er jetzt „einen anderen Marx, mit einem langen Bart“, wie er schmunzeln­d sagt: Karl Marx. „Aber man kann ihn gerechter machen.“

Deshalb stampft „der französisc­he Marx“immer weitere Projekte aus dem Boden. Demnächst eröffnet er ein neues Restaurant „mit starker sozialer Ausrichtun­g“in Paris, ohne Trennung zwischen Küche und Gästesaal. Selbst jeden Tag kochen wird er in diesem ebenso wenig wie in seinen anderen Lokalen. Marx ist ein Chef, der zu delegieren weiß.

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Fotos: Victor Bellot In Frankreich gehört Thierry Marx zum Kreis der berühmtest­en Köche, die gleichzeit­ig oft erfolgreic­he Geschäftsm­änner sind. Charismati­sch wirkt er mit seiner kräftigen, etwas gedrungene­n Statur, der Glatze und den Lachfalten um die Augen.
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In seinem Lokal „Madame Brasserie“kommt Nachhaltig­es und Gesundes auf den Tisch.
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