„Die Filmbilder sind oft stärker als das Leben“
Schon als Kind bekam Edgar Reitz eine Kamera geschenkt. Sie begleitet den Regisseur, der gerade seinen 90. Geburtstag gefeiert hat, bis heute. Ein Gespräch über sein Leben, über Kriegsängste, über die „Heimat“und die Zukunft des Kinos.
Herr Reitz, nicht lang, dann ist Weihnachten. Was strahlt da in Ihren JugendErinnerungen? Gab es ein außergewöhnlich schönes Fest?
Edgar Reitz: Was eine gewisse Rolle für mein späteres Leben spielte, war, dass ich als sechsjähriges Kind zu Weihnachten einen Filmprojektor geschenkt bekam. Ein Spielzeuggerät für den 35-MillimeterFilm, das ich bis heute besitze. Das ist für mich vielleicht die allerfrüheste Begegnung mit dem Kino oder mit der Technik des Kinos. Und dieses Geschenk begleitet mich durch das Leben.
Sie sind unlängst 90 geworden, blicken fast auf ein ganzes Jahrhundert zurück und haben gerade Ihre Autobiografie vorgelegt. So ein Werk ist immer auch eine Lebensbilanz. Was ist Ihnen darin besonders wichtig?
Reitz: Mir kam es sehr darauf an, den Unterschied zwischen dem Leben und der Fiktion der „Heimat“-Filme darzustellen. Es haben da häufig Verwechslungen stattgefunden, weil der Film im Hunsrück spielt, wo ich geboren bin. Dabei ist es natürlich so, dass die Figuren eigentlich alle fiktiv sind. Das Dorf, das ich da beschreibe, Schabbach, existiert nicht. Das ist ein erfundener Ort. Und als ich anfing, die „Heimat“zu machen, war ich bereits 30 Jahre nicht mehr in der Region gewesen. Ich hatte eine große intellektuelle, aber auch körperliche Distanz dazu. Ich glaube, ein solches Epos, das eine ganze Landschaft mit ihrer Geschichte verknüpft, ist nur machbar, wenn man nicht zu tief darin involviert ist. Man braucht einen fremden Blick auf viele Dinge, um die Eigentümlichkeiten zu erkennen.
Zugleich aber beschreiben Sie selbst in „Filmzeit, Lebenszeit“, wie sich die tatsächlichen Erinnerungen mit denen aus Ihren Filmen überlagern und sie teilweise überdecken, wie Filmfiguren zum Teil Ihres tatsächlich gelebten Lebens werden. Reitz: Das ist das Eigenartige, dass die Filmbilder letztlich stärker werden als die Erinnerungsbilder aus dem realen Leben. Nicht nur ich, sondern auch viele in der Region halten viele der Szenen und Bilder des Films für ihre eigene Geschichte oder für die Geschichte der Landschaft. Also die „Heimat“ist in Rheinland-Pfalz sozusagen ein regionales National-Epos geworden. Der Film verdrängt die tatsächlichen Bilder. Das gilt zum Beispiel auch für meine erste Hochzeit. In der „Zweiten Heimat“habe ich eine Studentenhochzeit inszeniert. Als ich beim Schreiben der Autobiografie nachdachte, wer bei meinem tatsächlichen Fest dabei war und mich nicht erinnern konnte, rief ich meine Ex-Frau an. Aber es stellte sich heraus, dass es auch sie nicht mehr wusste, sondern nur den Film zitierte. Die Filmbilder sind oft stärker als das Leben.
Begreifen Sie das als Kompliment, wenn Ihr Kunstwerk so übergriffig wirkt, dass es die wahren Erinnerungen überdeckt? Reitz: Das ist so eine Grenzerfahrung, denn man will sich natürlich selbst nichts weggenommen haben. Es entsteht eine Parallelwelt. Natürlich sind immer Elemente des eigenen Lebens spiegelbildlich in dem Werk vorhanden. Das ist unvermeidbar, manchmal schmerzhaft, weil es mit Abschied verbunden ist. Man verabschiedet sich sozusagen von Abschnitten seines Lebens, wenn man sie beschreibt. Das findet übrigens auch beim Schreiben einer Biografie statt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass – als das Buch fertig war – ganz eigentümliche neue Verhältnisse zu den beschriebenen Abschnitten des eigenen Lebens entstehen. So ein Buch zu schreiben heißt auch, dem Leben Sinn geben. Aber die eigene Biografie ist danach gemäht wie eine Wiese, abgeerntet wie ein Baum.
Sie sind 1932 geboren, sind vor und im Zweiten Weltkrieg groß geworden. Was haben Sie gedacht am 24. Februar dieses Jahres, was haben Sie gefühlt?
Reitz: Ich habe es nicht für möglich gehalten, dass es wieder Krieg in Europa gibt. Wir lebten so lange in einer friedlichen Periode, dass wir schon dachten, die Menschheit hätte endlich gelernt, dass Krieg keine mögliche Lösung von Konflikten ist, in keiner Situation. Aber wenn ich jetzt zurückdenke, habe ich solche Perioden der Kriegsangst mehrfach erlebt. Friedlich war die Welt tatsächlich nie. In den Nachkriegsjahren, mitten im Kalten Krieg, hatte man eine wahnsinnige Angst davor, dass irgendwo die Sicherungen durchbrennen, dass irgendwer eine Atombombe schmeißt und damit ein Weltbrand entfacht wird. Bei den Auseinandersetzungen danach, vom Nordirland-Konflikt bis zum Bosnien-Krieg, hatte man immer die Hoffnung, dass sie kontrollierbar sind und dass sie nicht zu uns überspringen. Diese Hoffnung ist heute kleiner geworden.
Sind Sie als Kriegskind retraumatisiert? Oder sehen Sie das eher gelassener, weil Sie sich denken, wir haben schon ganz anderes überstanden?
Reitz: Ich sehe gerade alles in einem merkwürdigen Zusammenhang: Wir hatten eine Pandemie. Wir haben eine apokalyptische Vorstellung von der Umwelt, erwarten eine Umweltkatastrophe. Wir haben eine Jugend, die in der Zukunft nichts Gutes mehr sieht, sondern deren Vorstellung davon mit Angst und Schrecken erfüllt ist. Und da kommt nun plötzlich dieser Krieg dazu. Es gibt diese alte Volksweisheit: Ein Unglück kommt selten allein. Wenn die Balance erst einmal gestört ist, dann kommt eines zum anderen. Das Leben der Völker und Gesellschaften dieses Planeten ist ein großes, unglaublich komplexes System. Es ist schwer zu begreifen, welche Kräfte da wirken. Und dieses weltweite Immunsystem kommt mir gerade vor wie ein großer biologischer Organismus, ein Leviathan, der uns alle verschlingt, wenn ihm weitere Probleme zugemutet werden.
Das planetare Immunsystem ist stark geschwächt.
Reitz: Ja. Und das Problem am Krieg, an diesem Krieg, ist nicht mehr der Anfang, sondern die Frage: Wie beendet man ihn? Ich habe mir viele Gedanken darüber gemacht, wie er zu Ende gehen könnte, und das ist ganz schwer vorstellbar. Je mehr Menschen sterben, umso mehr wird die
Vorstellungswelt der Beteiligten mit einem Kriegspathos gefüllt. Dieses Kriegspathos kann Formen annehmen, die stärker als der Lebenswille sind. Da kann eine heldenhafte Todessehnsucht entstehen. Das hat es im sogenannten Dritten Reich, im Zweiten Weltkrieg, auch gegeben. Dieser Wahn: Lieber gehen wir alle unter, als dass wir uns in irgendeiner Weise aufeinander einlassen. Hitler war am Ende so weit, dass er sich den Tod des gesamten deutschen Volkes vorstellen konnte.
Sorgen Sie sich um das Kino?
Reitz: Das Kino ist ja ursprünglich ein Kind einer technologischen Entwicklung gewesen. Auch die große Kulturgeschichte oder Kunstgeschichte des Kinos, die es im vergangenen Jahrhundert gegeben hat, geht gerade zu Ende. Das audiovisuelle Medium wird ein Allgemeingut. Jeder macht kleine Videos mit seinem Handy und kommuniziert sie auch. Also: Die Filmkunst als solche ist heute nicht mehr an das Kino gebunden. Ich fürchte, dass der größte Teil aller Kinos in den nächsten zehn Jahren schließen wird. Aber ich glaube, dass es trotzdem überlebt, weil Menschen in Gemeinschaft eine wirklich gesteigerte Wahrnehmung haben. Ein Saal voll Menschen kann etwas sehr intensiv, sehr viel intensiver erleben, als wir das allein je könnten.
Und Sie glauben, das Argument überzeugt heute einen 14-Jährigen?
Reitz: Das intensive Erlebnis, der tiefere Eindruck, die tiefere seelische Berührung wird ein Argument für das Kino bleiben. Und es wird gut geführte, technisch hochwertige Kinos in Zukunft weiterhin geben, aber die werden sich in ihrer Programmgestaltung ändern, sich in der Gesellschaft anders verorten müssen. Da muss noch viel geschehen.
Fühlen Sie sich in der heutigen Kinolandschaft noch heimisch?
Reitz: Ein guter Kinoabend mobilisiert gute Erinnerungen. Er gehört für mich noch immer zu den glücklichsten Erfahrungen, die ich kenne.
Als vor gut 20 Jahren – sagen wir mit „The Wire“– der noch immer anhaltende Serien-Boom
begann, waren Sie bereits mit der „Heimat 3“beschäftigt. Serien wurden dann bald als filmische Form des Entwicklungsromans gefeiert. Sehen Sie sich in dieser Tradition? Sehen Sie sich durch den Serien-Boom bestätigt?
Reitz: Wir befinden uns gerade in einem großen medienhistorischen Wandel. Also, das erste Jahrhundert der Kinogeschichte war ein Riesenerfolg, aber auch eine sehr einseitige Entwicklung, weil die Filme mit den festen Anfangszeiten in den Kinos und dem theaterähnlichen Betrieb ein bestimmtes dramaturgisches Muster bedienen mussten. Die Literatur, die ja sehr viel älter ist als der Film, hat die gesamte Skala ihrer stofflichen Möglichkeiten schon vor Jahrhunderten erkannt, der Film noch immer nicht. Der Film ist jetzt so allmählich im Aufbruch in neue Gefilde. Und dazu gehört auch die Entdeckung der epischen Erzählkunst, der ich mich gewidmet habe. Allerdings verstehe ich darunter eine Erzählform, die nicht auf das Ende ausgerichtet ist, wie in den meisten Serien, in denen es darum geht, das Publikum mit Erfolgsgeschichten zu beruhigen. Meine Geschichten enden weder als Drama noch mit Happy End. Wie im Leben gehen die Geschichten immer weiter. Mein Lieblingszitat ist von Karl Valentin und heißt: „Solange ich leb’, muss ich damit rechnen, dass ich weiterleb’.“Dieser Satz ist eine perfekte Anweisung für das epische Erzählen, das ich liebe.
Interview: Stefan Küpper
„Ein guter Kinoabend gehört noch immer zu den glücklichsten Erfahrungen.“
Zur Person
Edgar Reitz (90) ist Filmregisseur und weltweit für seine „Heimat“-Trilogie bekannt. Reitz wurde in Morbach/Hunsrück geboren, lebt aber seit Jahrzehnten in München. Er gehörte zu den Unterzeichnern des Oberhausener Manifests, das 1962 unter dem Motto „Papas Kino ist tot“einen neuen deutschen Film postulierte. Zuletzt legte er seine Autobiografie „Filmzeit, Lebenszeit“(Rowohlt) vor.