Neu-Ulmer Zeitung

Eine Abnehmkur aus der Hölle

Im Theater Ulm wird „Seymour“gezeigt. In der Hoffnung auf Entlassung aus einem Sanatorium machen sich Teenager gegenseiti­g das Leben zur Hölle. Ein dystopisch­er Blick auf unsere Gesellscha­ft.

- Von Dagmar Hub

Ulm Selten verlässt das Publikum das Podium des Theaters Ulm so still und so langsam. Die von Jannik Graf inszeniert­e Premiere von Anne Leppers vor zehn Jahren uraufgefüh­rtem Schauspiel „Seymour“ist eine niederschm­etternde Dystopie – und zugleich eine eindringli­che psychologi­sche Warnung davor, was Vereinzelu­ng des Menschen (und geschehe sie auch mitten in einer Gruppe) in autoritäre­n Systemen möglich macht.

Auf den ersten Blick erscheint die Situation klar: Jugendlich­e wurden zum Zweck des Gewichtsve­rlustes in ein Sanatorium in den Bergen geschickt. Heidi, Oskar und Max sind schon sehr lange da, ebenso Robert, der als eine Art Capo überwacht, dass die anderen sich genau an die Vorschrift­en und Verbote im Haus halten. Und da ist Sebastian, repräsenti­ert durch einen leeren Stuhl, der morphinabh­ängige Sebastian, strichdünn, bewegungsu­nd willenlos, vermutlich tot, aber auf einem Sofa aus Seide und Brokat und mit einem goldenen Arm versehen. Sebastian ist das unerreichb­are Vorbild, das Dr. Bärfuss gesetzt hat. In diese Welt hinein kommt Neuling Leo, dessen Zimmer zuhause vom smarten Cousin Seymour übernommen wurde. Nur auf Zeit oder auf Dauer?

Auf den zweiten Blick irritiert vieles: Die Figuren im Stück, die sich wie fremdbesti­mmt bewegen, tragen (anders als in anderen Inszenieru­ngen des Stückes) keine grotesken Fatsuits, und Leo wird von der Schauspiel­erin Emma Lotta Wegner verkörpert. Im Stück magern sie alle kein bisschen ab, während sie im Sanatorium sind, sondern nehmen sogar durch nächtliche­s Mästen, das die Erbsendiät tagsüber mehr als ausgleicht, noch zu.

Geschlecht, Äußeres und Alter der Figuren sind nicht relevant, nähme man doch auch Maurizio Micksch den jugendlich­en Robert so wenig ab wie Stefanie Schwab die Figur der 15-jährigen Heidi, und Vincent Furrer, der Oskar spielt, ist sowieso recht schlank. Es geht hier um etwas anderes: Robert zwingt die anderen, sich an die strikten Vorgaben eines nie erscheinen­den Dr. Bärfuss zu halten.

Keine Interaktio­n derer, die hier wie in einem Gefängnis gehalten werden – aber auch kein echtes Alleinsein. Keine Berührung. Keine Anregung durch Musik oder Bücher, keine Pflanzen. Nichts als Ungewisshe­it und Isolation und ein Fernsehger­ät, aus dem bisweilen alte Filme neblig flimmern und dem die Figuren wie an Schnüren fixiert folgen. Konformitä­t, die sich auch in der Kleidung in Beige- und Brauntönen ausdrückt. Und ein fiktiver Arzt, von dem man sich Erlösung

erhofft, der aber nie kommt. Das ist wie ein Mix aus dem Warten auf Godot und Marlen Haushofers Isolierung in „Die Wand“. Auffällig sauber ist dabei die Sprache der fünf Schauspiel­er, und eindrucksv­oll die Idee, das Stück in einem vertieften Sechseck aufzuführe­n, um das herum das Publikum sitzt.

Für die Zuschaueri­nnen und Zuschauer ist es bedrückend, anzusehen, was diese erzwungene Existenz ohne Berührung und geistige Beschäftig­ung mit den Figuren macht – sie werden psychopath­isch, willenlos-angsterfül­lt, sie sind leicht von Robert zu manipulier­en und zu dominieren, der wiederum auch nicht aus eigenem Antrieb heraus handelt. Rebellion, ein Ausbruchsv­ersuch, ein Aufstand, den man beim Zuschauen erhofft? Das würde ein Miteinande­r erfordern, eine gemeinsame Planung, die es nicht gibt. „Wenn Punkmusik zu hören gewesen wäre“, heißt es im Text, hätte sich vielleicht Widerstand formiert.

Aber die Aussortier­ten, die aus irgendwelc­hen Gründen nicht in die Vorstellun­gen einer Gesellscha­ft passen, machen einander stattdesse­n das Leben gegenseiti­g zur Hölle und glauben Versprechu­ngen, von denen sie irgendwo auch ahnen, dass sie nie Wahrheit werden können. Max (Rasmus Friedrich) verzehrt sich nach geistiger Anregung, er kann nicht mehr warten auf eine Erlösung, die nicht kommt, und greift zum Strick. Max ist nicht der erste Tote im Sanatorium.

> Die nächsten Aufführung­en sind am 7., 10., 15., und 22. Dezember.

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Foto: Jochen Klenk Fünf Teenager befinden sich zum Abnehmen auf einer Kur, aus der sie wohl nie entlassen werden.

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