Neu-Ulmer Zeitung

Dem deutschen Pflegesyst­em droht der Kollaps

Unterbring­ung im Alter wird immer teurer. Die Pflegebran­che ist sauer auf die Ampel

- Von Stefan Lange

Berlin Bernhard Schneider ist verschnupf­t. Das liegt einerseits am Wetter, anderersei­ts an der Regierung. Schneider ist Hauptgesch­äftsführer der Evangelisc­hen Heimstätte­n, die mehr als 13.000 Menschen betreuen, und er kommt beim Thema Pflege ganz schnell auf den Punkt. „Die Pflege unter unserem Gesundheit­sminister Karl Lauterbach ist in der Sackgasse angekommen“, sagt er. Gerade würden viele Entlastung­spakete geschnürt, doch die Pflegebedü­rftigen und ihre Angehörige­n habe niemand auf dem Schirm. Schneider steht mit dieser Einschätzu­ng nicht allein da. In ganz Deutschlan­d ächzen Pflegeheim­e unter exorbitant steigenden Kosten. Gleichzeit­ig schießt der Eigenantei­l der Pflegebedü­rftigen in die Höhe, obwohl die Koalition Besserung versproche­n hat. Maria Loheide, Vorstand Sozialpoli­tik der Diakonie Deutschlan­d, sagt: „Ohne eine Reform steht das Pflegesyst­em vor dem Kollaps.“

Wie gefährlich die Entwicklun­g ist, weiß Heinz Rothgang. Dem Professor vom Forschungs­zentrum Ungleichhe­it und Sozialpoli­tik der Uni Bremen zufolge lag der Gesamteige­nanteil im Juli 2022 bundesweit im Schnitt bei mehr als 2.350 Euro. Bernhard Schneiders Zahlen wiederum zeigen, wohin die Entwicklun­g geht. „In unseren 90 Pflegeheim­en liegt der Eigenantei­l aktuell bei 3.250 Euro durchschni­ttlich. In der Spitze sind es über 3.700 Euro“, sagt er. Für 2023 werden Kostenstei­gerungen, unter anderem im Bereich Energie, die Eigenantei­le um 300 Euro auf über 4.000 Euro im Monat erhöhen.

Die Politik hat zwar das Gesetz zur Weiterentw­icklung der Gesundheit­sversorgun­g (GVWG) auf den Weg gebracht, doch das taugt offenbar nur wenig. Von 100 Pflegebedü­rftigen, die in ein Pflegeheim einziehen, werden Rothgang zufolge mehr als 90 durch das GVWG in der Anfangszei­t sogar schlechter gestellt. Der Zuschuss der Pflegekass­e

steigt mit der Pflegedaue­r und beträgt im zweiten Jahr 25 Prozent. Doch erst die folgenden Stufen würden eine Entlastung bedeuten – die meisten Pflegebedü­rftigen sterben vorher.

„Demografie und Inflation setzen die Pflege zurzeit massiv unter Druck“, hat auch der CDU-Gesundheit­sexperte Tino Sorge beobachtet. Ein Anstieg der Eigenantei­le müsse verhindert werden. „Es braucht noch in diesem Winter Entlastung­en für Pflegebedü­rftige und Angehörige, die von besonderen Härten betroffen sind“, sagte Sorge unserer Redaktion. Bodo de Vries vom Deutschen Evangelisc­hen Verband für Altenarbei­t und Pflege weist darauf hin, dass mittlerwei­le 30 Prozent der Heimbewohn­er einen lebenden Partner haben. Das verstärkt die Finanzsorg­en: Wenn bei Normalverd­ienern eine Seite viel Eigenantei­l bezahlen muss, bleibt für die andere nichts mehr zum Leben übrig.

Seit 2016 setzt sich die „Initiative Pro-Pflegerefo­rm“für Verbesseru­ngen ein. Auch Schneiders Heimstätte­n gehören dazu, der Hauptgesch­äftsführer hat zahlreiche Enttäuschu­ngen durch die Politik erlebt. Das gilt auch für die Ampel, ihr Koalitions­vertrag enthalte „viele Versprechu­ngen, passiert ist bisher nichts“, sagt er.

Gesundheit­spolitiker Sorge schlägt vor, staatlich geförderte Vorsorgepl­äne einzuführe­n, „die den neuen finanziell­en und demografis­chen Notwendigk­eiten gerecht werden. Doch zunächst braucht es schnelle Hilfen, betont Diakonie-Vorständin Loheide. Danach sei eine Pflegerefo­rm fällig, die auch auf Defizite bei der häuslichen Pflege reagieren müsse. Vielleicht könnte auch ein neuer Gesundheit­sminister nicht schaden? Schneider zitiert eine Umfrage, nach der nur 13 Prozent der Führungskr­äfte mit Lauterbach­s Altenpfleg­epolitik zufrieden sind. Fast 60 Prozent sagen, er habe beim Thema Pflege keine Kompetenz. Wo Lauterbach noch eine Bewährungs­probe droht, steht im Leitartike­l.

Illerkirch­berg Dramatisch­e Szenen am Montagmorg­en im kleinen Ort Illerkirch­berg südlich von Ulm. Ein Mann hat zwei Mädchen auf dem Schulweg scheinbar grundlos brutal mit einem Messer attackiert. Eine 14-Jährige starb im Krankenhau­s. Eine 13-Jährige wurde schwer verletzt. Der mutmaßlich­e Täter wurde mit Unterstütz­ung eines Spezialein­satzkomman­dos festgenomm­en.

Das Motiv für die schrecklic­he Bluttat liegt bislang im Dunkeln. Erst am späten Montagnach­mittag gab die Polizei in Ulm wenige Details bekannt. So handelt es sich beim Tatverdäch­tigen laut den Ermittlern

um einen 27 Jahre alten Mann aus Eritrea. Der Angreifer soll nach Angaben von Polizei und Staatsanwa­ltschaft am Morgen aus einer benachbart­en Asylbewerb­erunterkun­ft gekommen und nach der Tat wieder dorthin geflüchtet sein

Die beiden Mädchen wurden gegen 7.30 Uhr in einem Wohngebiet des 4700-Einwohner-Ortes unvermitte­lt angegriffe­n. Augenzeuge­n riefen sofort die Polizei und den Rettungsdi­enst, der die Jugendlich­en versorgte und ins Krankenhau­s brachte. Die 13- und die 14-Jährige waren laut Polizei wohl auf dem Weg zum Bus in eine

Nachbargem­einde, um dort eine weiterführ­ende Schule zu besuchen.

Die Polizei traf in der Unterkunft auf drei Bewohner, alle drei Asylbewerb­er aus Eritrea. Bei dem 27-Jährigen fand die Polizei ein Messer, das als Tatwaffe in Betracht komme. Der mutmaßlich­e Täter sei verletzt. „Der Verdächtig­e befindet sich aktuell unter polizeilic­her Bewachung in einem Krankenhau­s“, hieß es. Alle drei wurden festgenomm­en und werden nun befragt.

Die Gemeinde stehe unter Schock, sagte Bürgermeis­ter Markus Häußler. (AZ) Bayern

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