Dem deutschen Pflegesystem droht der Kollaps
Unterbringung im Alter wird immer teurer. Die Pflegebranche ist sauer auf die Ampel
Berlin Bernhard Schneider ist verschnupft. Das liegt einerseits am Wetter, andererseits an der Regierung. Schneider ist Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstätten, die mehr als 13.000 Menschen betreuen, und er kommt beim Thema Pflege ganz schnell auf den Punkt. „Die Pflege unter unserem Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist in der Sackgasse angekommen“, sagt er. Gerade würden viele Entlastungspakete geschnürt, doch die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen habe niemand auf dem Schirm. Schneider steht mit dieser Einschätzung nicht allein da. In ganz Deutschland ächzen Pflegeheime unter exorbitant steigenden Kosten. Gleichzeitig schießt der Eigenanteil der Pflegebedürftigen in die Höhe, obwohl die Koalition Besserung versprochen hat. Maria Loheide, Vorstand Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, sagt: „Ohne eine Reform steht das Pflegesystem vor dem Kollaps.“
Wie gefährlich die Entwicklung ist, weiß Heinz Rothgang. Dem Professor vom Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Uni Bremen zufolge lag der Gesamteigenanteil im Juli 2022 bundesweit im Schnitt bei mehr als 2.350 Euro. Bernhard Schneiders Zahlen wiederum zeigen, wohin die Entwicklung geht. „In unseren 90 Pflegeheimen liegt der Eigenanteil aktuell bei 3.250 Euro durchschnittlich. In der Spitze sind es über 3.700 Euro“, sagt er. Für 2023 werden Kostensteigerungen, unter anderem im Bereich Energie, die Eigenanteile um 300 Euro auf über 4.000 Euro im Monat erhöhen.
Die Politik hat zwar das Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) auf den Weg gebracht, doch das taugt offenbar nur wenig. Von 100 Pflegebedürftigen, die in ein Pflegeheim einziehen, werden Rothgang zufolge mehr als 90 durch das GVWG in der Anfangszeit sogar schlechter gestellt. Der Zuschuss der Pflegekasse
steigt mit der Pflegedauer und beträgt im zweiten Jahr 25 Prozent. Doch erst die folgenden Stufen würden eine Entlastung bedeuten – die meisten Pflegebedürftigen sterben vorher.
„Demografie und Inflation setzen die Pflege zurzeit massiv unter Druck“, hat auch der CDU-Gesundheitsexperte Tino Sorge beobachtet. Ein Anstieg der Eigenanteile müsse verhindert werden. „Es braucht noch in diesem Winter Entlastungen für Pflegebedürftige und Angehörige, die von besonderen Härten betroffen sind“, sagte Sorge unserer Redaktion. Bodo de Vries vom Deutschen Evangelischen Verband für Altenarbeit und Pflege weist darauf hin, dass mittlerweile 30 Prozent der Heimbewohner einen lebenden Partner haben. Das verstärkt die Finanzsorgen: Wenn bei Normalverdienern eine Seite viel Eigenanteil bezahlen muss, bleibt für die andere nichts mehr zum Leben übrig.
Seit 2016 setzt sich die „Initiative Pro-Pflegereform“für Verbesserungen ein. Auch Schneiders Heimstätten gehören dazu, der Hauptgeschäftsführer hat zahlreiche Enttäuschungen durch die Politik erlebt. Das gilt auch für die Ampel, ihr Koalitionsvertrag enthalte „viele Versprechungen, passiert ist bisher nichts“, sagt er.
Gesundheitspolitiker Sorge schlägt vor, staatlich geförderte Vorsorgepläne einzuführen, „die den neuen finanziellen und demografischen Notwendigkeiten gerecht werden. Doch zunächst braucht es schnelle Hilfen, betont Diakonie-Vorständin Loheide. Danach sei eine Pflegereform fällig, die auch auf Defizite bei der häuslichen Pflege reagieren müsse. Vielleicht könnte auch ein neuer Gesundheitsminister nicht schaden? Schneider zitiert eine Umfrage, nach der nur 13 Prozent der Führungskräfte mit Lauterbachs Altenpflegepolitik zufrieden sind. Fast 60 Prozent sagen, er habe beim Thema Pflege keine Kompetenz. Wo Lauterbach noch eine Bewährungsprobe droht, steht im Leitartikel.
Illerkirchberg Dramatische Szenen am Montagmorgen im kleinen Ort Illerkirchberg südlich von Ulm. Ein Mann hat zwei Mädchen auf dem Schulweg scheinbar grundlos brutal mit einem Messer attackiert. Eine 14-Jährige starb im Krankenhaus. Eine 13-Jährige wurde schwer verletzt. Der mutmaßliche Täter wurde mit Unterstützung eines Spezialeinsatzkommandos festgenommen.
Das Motiv für die schreckliche Bluttat liegt bislang im Dunkeln. Erst am späten Montagnachmittag gab die Polizei in Ulm wenige Details bekannt. So handelt es sich beim Tatverdächtigen laut den Ermittlern
um einen 27 Jahre alten Mann aus Eritrea. Der Angreifer soll nach Angaben von Polizei und Staatsanwaltschaft am Morgen aus einer benachbarten Asylbewerberunterkunft gekommen und nach der Tat wieder dorthin geflüchtet sein
Die beiden Mädchen wurden gegen 7.30 Uhr in einem Wohngebiet des 4700-Einwohner-Ortes unvermittelt angegriffen. Augenzeugen riefen sofort die Polizei und den Rettungsdienst, der die Jugendlichen versorgte und ins Krankenhaus brachte. Die 13- und die 14-Jährige waren laut Polizei wohl auf dem Weg zum Bus in eine
Nachbargemeinde, um dort eine weiterführende Schule zu besuchen.
Die Polizei traf in der Unterkunft auf drei Bewohner, alle drei Asylbewerber aus Eritrea. Bei dem 27-Jährigen fand die Polizei ein Messer, das als Tatwaffe in Betracht komme. Der mutmaßliche Täter sei verletzt. „Der Verdächtige befindet sich aktuell unter polizeilicher Bewachung in einem Krankenhaus“, hieß es. Alle drei wurden festgenommen und werden nun befragt.
Die Gemeinde stehe unter Schock, sagte Bürgermeister Markus Häußler. (AZ) Bayern