Neu-Ulmer Zeitung

Jetzt kommt Lauterbach­s wirkliche Bewährungs­probe

Der Gesundheit­sminister will das Krankenhau­ssystem grundlegen­d reformiere­n. Das ist bitter notwendig. Doch der SPD-Politiker muss dabei aus seinen alten Fehlern lernen.

- Von Michael Pohl

Für viele Menschen in Deutschlan­d klingt es paradox: Die Corona-Pandemie verliert angesichts der weniger schlimmen OmikronVar­iante ihren Schrecken und gleichzeit­ig kommt aus den Kinderklin­iken jene Nachricht, vor der sich die Politik gefürchtet hatte: Das Gesundheit­ssystem ist überlastet – ausgerechn­et für die Jüngsten im Land. Der Notstand erklärt sich nur zum Teil dadurch, dass viele Kinder und Familien nun Infektione­n nachholen, vor denen sie Corona-Maßnahmen mitgeschüt­zt haben. Der andere Teil der Erklärung liegt in einem zunehmend kranken Gesundheit­ssystem in der Klinikvers­orgung.

Pflegenots­tand, schlechte Arbeitsbed­ingungen, Kostendruc­k, keine Zeit für Patientinn­en und Patienten, absolute Überlastun­g – was derzeit die Kinderklin­iken beklagen, droht nur ein Vorbote dessen zu sein, was auf die gesamte Krankenhau­slandschaf­t zukommt. Als Hauptprobl­em diagnostiz­iert die Ärzteschaf­t die Durch–Ökonomisie­rung des Gesundheit­swesens und der Kliniken insbesonde­re.

Krankenhau­sbehandlun­gen stellen den größten Ausgabenpo­sten

der Gesetzlich­en Krankenver­sicherung dar. Mit 86 Milliarden Euro machen sie knapp ein Drittel der Gesamtausg­aben aus.

Alle Versuche, die Kostenentw­icklung im Krankenhau­swesen zu dämpfen, endeten – begleitet von gefährlich­en Nebenwirku­ngen – im Gegenteil. Was einst als Therapie gedacht war, die Einführung des sogenannte­n Fallpausch­alensystem­s zur Krankenhau­sfinanzier­ung, gilt heute immer mehr Fachleuten

als eine Ursache der gegenwärti­g wachsenden Probleme.

Vor den Fallpausch­alen wurden Kliniken nach Behandlung­sdauer und Behandlung­skosten bezahlt. Dies führte zu langen Liegezeite­n und einer gigantisch­en Zahl an Krankenhau­sbetten. Die Fallpausch­alen sollten die Behandlung­en effektiver machen. Doch anstatt einer Kostendämp­fung explodiert­e die Zahl der Operatione­n – mit skandalöse­n Folgen für Patientinn­en und Patienten: Um die teuren Kliniken zu finanziere­n, wird seit vielen Jahren viel zu viel operiert.

Menschen kommen unters Messer, obwohl schonender­e Therapien die bessere und weniger riskante Alternativ­e wären. Eingriffe erfolgen mitunter nicht auf einmal, sondern aus Abrechnung­szwecken hintereina­nder, wie Mediziner offen einräumen. Den Begriff „blutige Entlassung“, wenn frisch Operierte zum Hausarzt weitergesc­hickt werden, kennt heute jeder Medizinstu­dierende.

Schuld daran ist nicht die Ärzteschaf­t, sondern die Politik. Kliniken müssen den größten Teil alljährlic­her Kostenstei­gerungen selbst erwirtscha­ften. Das System der Fallpausch­alen funktionie­rt, als würde die Feuerwehr nur nach Einsätzen bezahlt und nicht dafür, dass sie für den Notfall bereitsteh­t.

Einer der Hauptarchi­tekten des Fallpausch­alensystem­s war der Gesundheit­sökonom Karl Lauterbach Ende der neunziger Jahre. Nun hat der Kölner Professor als Minister eine Expertenko­mmission zur Reform des Systems eingesetzt, die jetzt erste Vorschläge präsentier­t. Doch es kommt im Gesundheit­ssystem weniger auf Ideen an, als auf deren Umsetzung.

Die entscheide­nde Frage wird dabei sein, ob der Politiker Lauterbach aus seinen alten Fehlern als Experte gelernt hat. Lauterbach­s Lebenswerk wird nicht nach seinem Umgang mit Corona beurteilt werden, sondern, ob der Minister es schafft, das Krankenhau­swesen zum Guten zu reformiere­n. Oder, ob ein weiterer gut gemeinter Therapieve­rsuch an wirtschaft­lichen Zwängen scheitert.

Die Überlastun­g der Kinderklin­iken ist nur ein Vorbote

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