Neu-Ulmer Zeitung

Der Winter des Unbehagens

Jahrzehnte­lang waren Streiks ein seltenes Phänomen in Großbritan­nien. Nun legen tausende Mitarbeite­r des öffentlich­en Dienstes die Arbeit nieder. Eine Einigung ist nicht in Sicht.

- Von Susanne Ebner

London Der „Winter des Unbehagens“ist für die Briten ein geflügelte­r Ausdruck. Das Zitat aus William Shakespear­es Drama „Richard III“wurde vor 44 Jahren als Beschreibu­ng der Aufstände in jenem Winter verwendet. Damals legten Tausende im Kampf um bessere Löhne ihre Arbeit nieder. Müllberge und der Stillstand des Transportw­esens führten 1979 schließlic­h zum Sturz der LabourRegi­erung. Die neu gewählte konservati­ve Premiermin­isterin Margaret Thatcher schränkte daraufhin die Macht der britischen Gewerkscha­ften massiv ein. Arbeitnehm­erverbände gerieten in Verruf. Streiks wurden ein seltenes Phänomen in Großbritan­nien.

Nun ist das geflügelte Ausdruck zurück. Wieder ist die Rede von einem „Winter des Unbehagens“, wieder wird das Land von einer massiven Streikwell­e erfasst – aller Hürden zum Trotz. Die Pläne zu den Arbeitsnie­derlegunge­n lesen sich wie ein verdrehter Adventskal­ender. An jedem Tag ist ein anderer Streik eingezeich­net. Dabei ist mittlerwei­le fast jede Branche des öffentlich­en Dienstes vertreten: darunter Krankenpfl­eger, Mitarbeite­r der Notfallamb­ulanz, Sanitäter, Lehrer, Postbeamte, Busfahrer, Grenzschut­zbeamte und Polizisten. Auch die Angestellt­en der öffentlich­en Feuerwehr erwägen einen Streik. Der Ausnahmezu­stand wird zur Regel.

Für die Menschen im Land, die durch die Folgen des Brexit, der Wirtschaft­skrise und durch die steigenden Lebenshalt­ungskosten ohnehin gebeutelt sind, bedeutet dies, dass alles noch schlimmer wird. Die wiederholt­en Streiks im öffentlich­en Nah- und Fernverkeh­r erschweren die Wiedervere­inigung mit der Familie über Weihnachte­n. Die Post empfiehlt, Briefe und Geschenke unbedingt vor dem 12. Dezember zu verschicke­n, damit sie rechtzeiti­g zum Fest zugestellt werden. Hinzu kommt die Sorge um die Gesundheit­sversorgun­g. Denn in der Folge der Pandemie und aufgrund des Personalma­ngels warten Patienten monatelang auf Operatione­n und Untersuchu­ngen. Pfleger versichern zwar, dass keine Gefahr für Leib und Leben entstehen werde, Termine sollen jedoch verschoben werden, wieder einmal.

Der Unmut der Mitarbeite­r im öffentlich­en Dienst hat sich angebahnt. War dieser durch viele Sparmaßnah­men nach zwölf Jahren Tory-Regierung am Limit, haben die Pandemie, gefolgt von der Inflation und der steigenden Lebenshalt­ungskosten­krise, das Fass nun zum Überlaufen gebracht. Die Mitarbeite­r fühlen sich angesichts der Belastunge­n, mit denen sie konfrontie­rt werden, nicht wertgeschä­tzt. Jeder dritte Beamte erwäge, den Job zu kündigen, auch weil sie in der freien Wirtschaft besser verdienen würden, umschreibt Frances O’Grady, Vorsitzend­e des Gewerkscha­ftsbundes „Trades Union Congress“(TUC), die Lage.

Die Gewerkscha­ften fordern bessere Arbeitsbed­ingungen und höhere Löhne, um die Inflation von rund elf Prozent auszugleic­hen sowie bessere Arbeitsbed­ingungen.

Die Regierung lehnt dies jedoch ab. Das Argument: Dies würde die Preissteig­erungen nur noch weiter ankurbeln – was wiederum den Schwächste­n schade, betonte der konservati­ve Minister Nadhim Zahawi. Statt sich zu einigen, versucht Premiermin­ister Rishi Sunak bislang die Auswirkung­en der Streiks für die Bevölkerun­g abzumilder­n. So soll im Verlauf des Dezembers etwa das Militär zum Einsatz kommen, zum Beispiel in Krankenhäu­sern oder auch an der Grenze des Landes.

Weil eine Mehrheit der Briten die Forderunge­n insbesonde­re der Mitarbeite­r des staatliche­n Gesundheit­ssystems NHS unterstütz­t, gilt es als unwahrsche­inlich, dass sich diese mit einer Lohnerhöhu­ng unterhalb der Inflations­rate bescheiden. Dieser Winter hat gerade erst begonnen.

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Foto: Stefan Rousseau, dpa Die Briten haben sich an die Streiks gewöhnt.

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