Neu-Ulmer Zeitung

Wie lebt man mit über 80 Prozent Inflation?

Kein Geld mehr für Urlaub, zum Essen nur noch Fisch statt Fleisch – und an eine Hochzeit ist für viele längst nicht mehr zu denken. Warum viele Türken trotz der schwierige­n Lage weiter zu Staatspräs­ident Erdogan halten.

- Von Susanne Güsten

Izmir Das Licht der Herbstsonn­e fällt in das Gewirr der Marktgasse­n im Zentrum von Izmir. Kleiderhän­dler, Schuhläden, Brautausst­atter, Lederwaren­geschäfte, Imbissbude­n und Juweliere drängen sich hier aneinander, aber Kunden gibt es kaum. „Früher war das anders, da drängten sich die Leute hier. Jetzt kommt keiner mehr“, sagt Händler Murat. Bei 84,4 Prozent lag die Jahresinfl­ation in der Türkei im November, wie das Statistika­mt am Montag mitteilte. Die unabhängig­e Expertengr­uppe Enag beziffert den Wert sogar auf 171 Prozent. Die Inflation zwingt Normalbürg­er in einen Krisenmodu­s aus Verzicht, Einschränk­ungen und kleinen Schummelei­en.

Seit drei Tagen hat kein Kunde mehr das Kleidungsg­eschäft der 54-jährigen Sidika im Marktviert­el der westtürkis­chen Metropole betreten. Wenn mal jemand auftaucht, ist das nicht unbedingt eine gute Nachricht: „Da kommen Deutschtür­ken, die auf Urlaub hier sind, die wollen nur den halben

Preis bezahlen und ziehen uns so immer noch weiter runter.“Sidika selbst kann sich keinen Urlaub mehr leisten. Letztes Jahr war sie drei Tage im Ferienort Kusadasi, etwa anderthalb Autostunde­n südlich von Izmir. Heute bereut sie es. „Ich zahle immer noch die Raten ab. Wie viel Geld dafür draufgegan­gen ist, und dabei war es kein Luxusurlau­b.“

Mieten, Energie, Lebensmitt­el – alles wird ständig teurer. „In den Supermärkt­en wechseln sie dauernd die Preisschil­der aus, am laufenden Band“, sagt Sidika. Selbst Grundnahru­ngsmittel seien mittlerwei­le unerschwin­glich, berichtet die Rentnerin Belgin, die auf dem Markt jobbt, weil ihre Rente zum Leben nicht reicht. „Wir essen kein Fleisch mehr und nur den billigsten Fisch“, erzählt sie. „In unserem Mietshaus gibt es Gasheizung, aber die macht keiner mehr an, wir heizen alle mit Holzofen.“

Millionen Türken müssen mit dem staatliche­n Mindestloh­n von umgerechne­t 280 Euro im Monat auskommen, der von der Regierung seit letztem Dezember schon zweimal kräftig angehoben wurde, um die Kaufkraft der Türken zu schützen. Im Januar steht eine neue Anhebung an; Medien spekuliere­n über eine Verdopplun­g auf über 500 Euro, schließlic­h will Präsident Recep Tayyip Erdogan die Wahlen im nächsten Jahr gewinnen. Doch bisher frisst die Inflation alle Einkommens­verbesseru­ngen schnell wieder auf. Nach Berechnung­en des Gewerkscha­ftsverband­es Türk-Is liegt die Armutsgren­ze für eine vierköpfig­e

Familie inzwischen bei rund 1300 Euro im Monat. Mit nur einem Verdienst wird es eng für einen Haushalt mit Kindern.

Um einigermaß­en über die Runden zu kommen, überziehen viele Türken ihre Kreditkart­en und legen sich neue Karten zu, um die Schulden bei den anderen bezahlen zu können. Für mehr als einer halben Million Kreditkart­enkunden droht nach Einschätzu­ng des Bankenverb­andes die Zahlungsun­fähigkeit.

Der Sparzwang betrifft auch wichtige Entscheidu­ngen im Privaten. Ein Passant sagt, er habe seinen Kindern die Nachhilfe gestrichen. Der Markthändl­er Murat ist Junggesell­e – er kann es sich nicht leisten, eine Familie zu gründen. Die 29-jährige Boutique-Verkäuferi­n Neslihan hat beobachtet, dass Festkleide­r in den Regalen bleiben: „Es heiratet ja niemand mehr – kann sich ja keiner leisten.“

Mit Galgenhumo­r zählt Neslihan auf, nach welchen Kriterien sie selbst nach einem Mann sucht. „Reich soll er sein und gut aussehen, und er darf gerne aus dem Ausland kommen – den bestelle ich hiermit.“Gibt es doch einmal eine Hochzeit, wird auch dabei gespart. Die Kosten für Hochzeitss­äle, die in der Türkei für große Feiern angemietet werden, sind so stark gestiegen, dass viele Paare die teuren Wochenende­n für ihre Vermählung meiden und auf die billigere Wochenmitt­e ausweichen, wie die Rentnerin Belgin sagt. Traditione­ll überreiche­n Hochzeitsg­äste bei den Feiern Goldmünzen als Geschenk. Weil Gold für viele zu teuer sei, würden nun häufig billige Imitate verschenkt, sagt sie. Trotz der vielen Probleme ist im Marktviert­el kaum Wut auf die Regierung zu spüren. Erdogans Regierungs­partei AKP bleibt trotz der Rekordinfl­ation in den Umfragen stärkste politische Kraft. Viele Türken trauen ihm eher als der Opposition zu, die Krise in den Griff zu bekommen. Finanzmini­ster Nureddin Nebati feierte die neuen Zahlen vom Montag als Erfolg, weil die Inflation von 85 Prozent im Oktober leicht auf 84 Prozent zurückging. Allerdings musste er einräumen, dass die Linderung zumindest zum Teil am sogenannte­n Basiseffek­t lag: Weil die Inflation im November 2021 stark anzog, veränderte sich die Berechnung­sgrundlage für die neuen Werte, die dadurch günstiger ausfielen.

Die Großteils regierungs­treuen Medien berichten täglich, anderswo auf der Welt sei es auch nicht besser mit der Inflation. In Europa seien die Regale in den Supermärkt­en leer, in der Türkei dagegen gebe es weiterhin alles zu kaufen, sagt Erdogan, und zumindest ein Marktbesuc­her glaubt es ihm: „Ihr seid doch nur neidisch auf uns.“

In Europa seien die Regale leer, heißt es

 ?? Foto: Hakan Akgun, dpa (Symbolfoto) ?? Die Inflation ist in der Türkei erstmals seit mehr als einem Jahr zurückgega­ngen. In vielen Restaurant­s und Geschäften ist Kundschaft mittlerwei­le Mangelware.
Foto: Hakan Akgun, dpa (Symbolfoto) Die Inflation ist in der Türkei erstmals seit mehr als einem Jahr zurückgega­ngen. In vielen Restaurant­s und Geschäften ist Kundschaft mittlerwei­le Mangelware.

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