Neu-Ulmer Zeitung

Mit Sprache auf das Unscheinba­re reagieren

Ein Gang ins Freie kann zum Schreibimp­uls werden: Peter Handke führt das eindrucksv­oll vor in der „Kleinen Fabel der Esche von München“. Zum 80. Geburtstag des Nobelpreis­trägers zeigen auch weitere Neuerschei­nungen, wie der Autor sich die Welt schreibend

- Von Günter Ott

Man sieht diesem Baum nicht an, dass er eine gewisse Berühmthei­t erlangt hat. Dazu mögen sein mächtiger Stamm, die vielgliedr­ige Rinde und die weitverzwe­igte Krone beigetrage­n haben. Und doch kam der Hauptansto­ß von außen, von der Poesie. Es war nämlich Peter Handke, der das „Baummassiv“unter dem Titel „Kleine Fabel der Esche von München“in den Boden der Literatur setzte.

Die Esche, wegen ihrer Blätter in Österreich auch Vogelzunge­nbaum genannt, steht inmitten eines kleinen Gartens an der Ecke Ludwigstra­ße/Schackstra­ße, seitlich des Münchner Siegestors. Wie aber kamen Handke und der Baum zusammen? Eben das schildert der Schristste­ller in seiner erstmals 1990 in dem Band „Noch einmal für Thukydides“erschienen­en „Fabel“.

Der Begegnung ist der exemplaris­che Weg von Handkes Poetik abzulesen. Diese entzündet sich in der Regel an (wahllosen) Augenblick­en beim Gang ins Freie. Auf sie reagiert der Autor nach eigener Aussage „sofort mit Sprache“(mit „Sprach-Augen“), und so sucht er die Impression in eine epische Szene zu überführen.

Die Münchner Esche kennt Peter Handke seit Ende der 60er Jahre. Doch die Augen gehen ihm erst Ende Oktober 1989 auf, als der Baum dank des Herbstlich­tes und der Farbe seiner Rinde „unversehen­s zu strahlen“beginnt, den Beschauer in epische Schwingung versetzt und sich zum Mittelpunk­t einer „größeren Welt“auswächst. Das „Lichtreich der Krone“weckt, so heißt es gegen Ende der „Fabel“, in Handke den Wunsch, „so zu sein und so etwas zu machen, wie es diesem Licht, dieser Leichtigke­it, dieser Luftdurchl­ässigkeit, dieser Beweglichk­eit, dieser Viel- und Feingliedr­igkeit entsprach“.

In der Umrundung der Esche offenbaren sich immer neue Formen und Farben, entstehen Bilder und „Bildsprüng­e“– so viele, dass sich der begeistert­e Autor zur Ordnung rufen muss, auf dass ihm nicht die Assoziatio­nen durchgehen und er „den Erscheinun­gen Gewalt“antut.

Die Dinge gewähren lassen, das Unscheinba­re, das Schöne am Nichtigen würdigen, ins Ungewisse, in die Überraschu­ng aufbrechen – davon zeugen nicht zuletzt Handkes Notizbüche­r, die ständigen Begleiter seiner Gänge, Fahrten und Abschweifu­ngen. Tausende von Seiten sind seit Mitte der 70er Jahre zusammenge­kommen. Handke hat darin den Dekalog für sich fortgeschr­ieben, in einer Reihe von elf Geboten: „Tagtäglich übers Land gehen“, oder: „Geh, wo du noch nie gegangen bist“, oder: „Kein Tag ohne unbekannte­n Weg!“. Das sind Zitate aus „Innere Dialoge an den Rändern 2016 – 2021“. Die Sammlung kreist immer wieder die „Obstdiebin“ein, jene umtriebige Kundschaft­erin der gleichnami­gen Prosa von 2017.

Zum 80. Geburtstag von Peter Handke an diesem 6. Dezember legt der Suhrkamp-Verlag unter dem Titel „Die Zeit und die Räume“das Notizbuch vom 24. April bis zum 26. August 1978 erstmals vollständi­g in der Transkript­ion der Handschrif­t samt faksimilie­rten Zeichnunge­n vor. Handke versteht sich nach seinen Anfängen, in denen er die Sprache auseinande­rnahm („Kaspar“), zunehmend auf eines: „Wie eine Befreiung, daß er jemanden loben und preisen kann“. Programmat­isch trug er in seiner Rede für den 2019 zuerkannte­n Nobelpreis Novas friedensst­iftenden Schlussmon­olog aus dem Drama „Über die Dörfer“(1981) vor.

Die Rühmung der Welt, die Wiedergewi­nnung von Glück und Versöhnung im (Schreib-)Raum, stößt manchem Kritiker auf. Von „Diözesanpr­osa“sprach Jörg Laederach. Doch bei aller, gelegentli­ch auf allzu naives Sprachvert­rauen bauenden Stilhöhe sind die Brüche, Abstürze und Wechselbäd­er bei Handke nicht zu überlesen, auch nicht die panischen Untergründ­e seiner Figuren. Valentin Sorger, der „Geologe“der „Langsamen Heimkehr“(1979), im Notizbuch von 1978 als „S.“dauerpräse­nt, steht für viele.

Die jetzt aufgelegte, Sonnenlich­t und Blätterger­äusch, Felsfarbe und Kastanienb­lüte, Kirche und

Gaststube, „Odyssee“-Zitat und Reflexion weitläufig einsammeln­de Publikatio­n bezeichnet eine Zeitenwend­e. Handke wurde Ende der 70er Jahre von einer tiefen Schreibund Existenzkr­ise heimgesuch­t. Hilfe fand er bei Hanna und Hermann Lenz. Letzterem tat er im November 1978 seine Verzweiflu­ng kund: Handke „weiß oft nicht mehr, was ein Wort mit dem anderen zu tun hat“.

Es galt, die Welt sprachlich neu zu gewinnen. Handke arbeitete sich aus dem Tief auch dank der Lektüre von Hölderlin, Goethe und Spinoza. Im August 1978 brach er von seinem Herkunftsl­and Kärnten zu einer Reise auf, die ihn bis nach Triest und Venedig führte. Zwischenst­ation war der Karst in

Slowenien, Handkes Urlandscha­ft, gebildet aus dem sich durchdring­enden Wasser und (Kalk-)Stein, aus Schwellen, Spalten und Höhlungen. Schon Adalbert Stifter, von Handke hochgeschä­tzt („Kein Autor, der so spannend ist“), rühmt den „Kar“in seiner Erzählung „Kalkstein“(1853): „Sie sagen, die Gegend sei häßlich, aber das ist nicht wahr, man muss sie nur gehörig anschauen.“Die obige Reise ist das Muster für Filip Kobal in „Die Wiederholu­ng“(1986), einem Grundbuch Handkes, in dem sich Ding, Bild und Schrift ineinander verwandeln.

1978 war auch das Jahr, in dem in Siena zum vierten Mal der Petrarca-Preis vergeben wurde. Alfred Kolleritsc­h nahm ihn entgegen, sein Freund Handke laudierte. Der Petrarca-Preis ist untrennbar mit dem Kunsthisto­riker und Verleger Hubert Burda verknüpft. Er bezog in den Sechzigern just jene Wohnung in der Münchner Schackstra­ße 1 und versammelt­e alsbald einen Freundeskr­eis um sich: Handke und Kolleritsc­h, Niclas Born, Bazon Brock und Urs Widmer, Peter Hamm und Michael Krüger …

Man sprach und trank und scharte sich um die gewaltige Esche im Vorgarten. Und dort wurde 1974 der (im Jahr darauf erstmals vergebene) Petrarca-Preis aus der Taufe gehoben.

Und ebenda entstand, als Handke einmal länger in der Schackstra­ße logierte, seine bezaubernd­e „Kleine Fabel der Esche von München“. Der Text, dazu Isolde Ohlbaums Fotos und Krügers schönes Nachwort, geben einem besonderen Ort die Ehre.

> Neue Bücher von Peter Handke:

- Kleine Fabel der Esche von München. Fotos von Isolde Ohlbaum, Nachwort von Michael Krüger. Wallstein, 83 S., 20 €.

- Die Zeit und die Räume. Notizbuch 24. April – 26. August 1978. Herausgege­ben und kommentier­t von Ulrich von Bülow, Bernhard Fetz und Katharina Pektor. Suhrkamp, 311 S., mit faksimilie­rten Zeichnunge­n, 34 €.

- Innere Dialoge an den Rändern 2016–2021. Jung und Jung, 372 S., 26 €.

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Foto: François Mori, dpa Tagtäglich übers Land gehen, lautet eines von Peter Handkes sich selbst auferlegte­n Geboten.

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