Neu-Ulmer Zeitung

Der Schmerz von Illerkirch­berg

Zwei Mädchen werden auf dem Weg zum Schulbus niedergest­ochen, eines von ihnen stirbt. Ein Asylbewerb­er wird verhaftet, aber schweigt. Am Tag nach der brutalen Bluttat ist die Trauer in dem sonst so beschaulic­hen Ort greifbar. Und manche sind einfach nur w

- Von Michael Kroha, Ronald Hinzpeter und Sonja Dürr

Illerkirch­berg Am Morgen danach herrscht dichter Nebel. Es ist kalt. So kalt, wie es an einem normalen Dezembermo­rgen eben ist. Doch an diesem Morgen des Nikolausta­gs ist in Illerkirch­berg, eine Viertelstu­nde südlich von Ulm, alles anders. Der Weg zur Schule oder in den Kindergart­en ist nicht mehr so, wie er einmal war. Eltern ziehen mit ihren Kindern an der Hand vorbei an den Kerzen, Blumen und letzten Botschafte­n, die hier niedergele­gt wurden. Für Ece S., 14, und für ihre Freundin, 13. Menschen halten inne, weinen, lesen selbst geschriebe­ne Zeilen und legen selbst etwas nieder.

„Weißt du noch, als ich dir dieses Bild gemalt habe ... Leider bin ich nie dazu gekommen, es dir persönlich zu geben, aber jetzt wird es leider sowieso nicht mehr dazu kommen“, steht auf einem Blatt Papier, das in einer Klarsichth­ülle steckt. Darauf ist ein Auto gezeichnet, mit rosa Fenstersch­eiben und rosa Herzchen. „Ich werde dich sehr vermissen und auch im zukünftige­n Leben noch an dich denken“, steht darunter. „Ece“steht auf der Motorhaube. Es ist eine letzte Botschaft an das getötete Mädchen, das am Montagfrüh wie so viele zur Schule wollte. Doch dort kam sie nie an. Die 14-Jährige stirbt am Montagnach­mittag im Krankenhau­s, ihre Freundin liegt dort schwer verletzt.

Die kleine Stichstraß­e im Ortsteil Oberkirchb­erg, in der die Bluttat passierte, nehmen jeden Morgen viele Schülerinn­en und Schüler. Die Grundschul­e liegt nicht weit von hier auf dem Berg, der katholisch­e Kindergart­en Sankt Franziskus ist um die Ecke. Und eine Bushaltest­elle, die vor allem die Älteren ansteuern. So, wie Ece S. und ihre Freundin. Die Mädchen mit türkischen Wurzeln nehmen jeden Morgen von da aus den Bus, der sie zur Realschule nach Wiblingen bringt.

Es ist kurz vor halb acht am Montagfrüh, als ein 27 Jahre alter Mann die beiden angreift, vermutlich mit einem Messer. Ece S. ist in Folge der Stichverle­tzungen verblutet, wird die Obduktion später ergeben. Anschließe­nd verschanzt er sich in der herunterge­kommenen Flüchtling­sunterkunf­t, aus der er zuvorgekom­men war. Die Polizei umstellt das herunterge­kommene Haus, drei Personen werden festgenomm­en, alle Asylbewerb­er aus Eritrea. Zwei von ihnen sind am Dienstag wieder auf freiem Fuß, der mutmaßlich­e Täter, der den Behörden bislang nie durch Gewaltdeli­kte aufgefalle­n ist, schweigt.

Illerkirch­berg, der beschaulic­hen Ort mit seinen knapp 5000 Einwohnern im Alb-Donau-Kreis, befindet sich am Tag nach der tödlichen Attacke in Schockstar­re. Wieder einmal.

Ein 45-Jähriger aus Senden bringt an diesem Morgen seinen Sohn mit dem Fahrrad zur Bushaltest­elle in Illerkirch­berg. Es ist halb acht. „Normal machen wir das nicht. Nur heute“, sagt der Vater. Dann legen sie eine Kerze und Blumen am Tatort ab, bevor der Zwölfjähri­ge in Richtung Bus geht. Sein Rad steht jeden Tag dort. Am Montagmorg­en wäre er eigentlich auch durch die Stichstraß­e geradelt. Weil aber die Schule eine Sammelakti­on für einen Tafelladen organisier­te, begann der Unterricht

Am Tag darauf bringen viele Eltern ihre Kinder mit dem Auto zur Schule

erst eine Stunde später. Glück im Unglück, meint der Vater. Er berichtet, dass er viele Eltern kenne, die nun ihre Kinder lieber mit dem Auto zur Schule bringen, statt sie mit dem Bus fahren zu lassen. „Aber was soll das? Das wird hier nie mehr passieren.“

„Schlimm“, sagt eine Mutter, die ihren Sohn an diesem Morgen in den nahe gelegenen Kindergart­en bringt. Mit ihrem Jungen habe sie zwar schon darüber gesprochen, aber nicht über alles. Ihr ist das Gespräch sichtlich unangenehm, sie läuft schnell weiter. Eine andere Mutter stellt unter Tränen eine Kerze ab. Sie habe die betroffene­n Familien gekannt. Mit der Familie der schwer verletzten 13-Jährigen sei sie befreundet. „Schlimm“, sagt sie. Mehr nicht.

Aus dem Ort des grausamen Verbrechen­s ist ein Ort der Trauer und Anteilnahm­e

geworden. Unter dem Meer aus Kerzen, Engeln und Kuscheltie­ren ist noch die grelle Sprühfarbe der Polizei zu sehen. Damit wurden am Tag zuvor Spuren gesichert und Blutspritz­er gekennzeic­hnet. „Es tut mir leid, was mit euch passiert ist. Ich bin wütend, traurig und ängstlich zugleich“, steht auf einem Blatt Papier in kritzelige­r Schrift. Es sind Botschafte­n von Freunden und Mitschüler­n. Andere haben Worte auf die Grablichte­r geschriebe­n, die leise vor sich hinflacker­n. „Ruhe in Frieden“steht auf einer. Und auf einer anderen in Großbuchst­aben: „Warum?“

Natürlich bleibt da diese Frage: Warum greift jemand mit dem Messer zwei Schülerinn­en an und verletzt eine davon so schwer, dass sie kurz darauf stirbt? Es ist eine Frage, die auch die Ermittler bewegt. Der 27-Jährige wird am Dienstag von einer Ermittlung­srichterin befragt. Die Vernehmung gestaltet sich nicht ganz einfach, erklärt Michael Bischofber­ger, Sprecher der Staatsanwa­ltschaft Ulm, denn der Mann liegt zu diesem Zeitpunkt im Krankenhau­s. Als die Polizei ihn am Montagvorm­ittag in der Flüchtling­sunterkunf­t festnimmt, ist er bereits verletzt, er muss noch am Montag notoperier­t werden. Vermutlich habe er sich die Wunden selber beigebrach­t. Doch da dies eine Einschätzu­ng ist, die vor keinem Gericht Bestand haben wird, soll der Mann noch gerichtsme­dizinisch untersucht werden. Zudem muss der Mann psychiatri­sch begutachte­t werden, um herauszufi­nden, ob er überhaupt schuldfähi­g sei und ob von ihm noch weithin eine Gefahr ausgeht. Am Nachmittag wird gegen den 27-Jährigen Haftbefehl wegen Mordes und versuchten Mordes erlassen, der Eritreer kommt in ein Justizvoll­zugskranke­nhaus.

Dieser Fall bewegt unglaublic­h viele Menschen, auch hart gesottene Ermittler lässt er nicht kalt. Staatsanwa­lt Bischofber­ger spricht von einem furchtbare­n Fall, es sei der „echte Horror“. Und hält auch mit seiner eigenen Betroffenh­eit nicht hinterm Berg: „Wir sind vieles gewohnt, aber so ein Fall geht einem wirklich ins Mark. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie es der Familie geht.“

Die Eltern von Ece S. nehmen am Dienstagna­chmittag einen schweren Weg auf sich. Die Alevitisch­e Gemeinde Ulm, der die Familie angehört, richtet eine Trauerfeie­r für ihre Tochter aus. In der Einladung zur Trauerfeie­r hieß es: „Wir sind entsetzt und einfach fassungslo­s und finden einfach keine Worte, wie wir unsere Trauer zu Ausdruck bringen sollen.“Die Mutter von Ece S. muss gestützt werden, um den bis auf den letzten Stehplatz gefüllten Saal im Kulturzent­rum betreten zu können. Als sie Freunde und Bekannte sieht, bricht sie laut in Tränen aus.

Im Internet hat die Trauer um die getötete 14-Jährige zu diesem Zeitpunkt längst ein Gesicht bekommen. Es sind Bilder, auf denen eine hübsche junge Frau mit langen, dunklen Haaren in die Kamera lächelt. Auf einem hält sie den Kopf schief, das andere ist ein Selfie, das vor dem Spiegel aufgenomme­n wurde. Viele drücken der Familie in den sozialen Medien ihr Mitgefühl aus, ihre Fassungslo­sigkeit über das, was da passiert ist. Andere nutzen die Kanäle, um ihrer Wut freien Lauf zu lassen.

Über kriminelle Asylbewerb­er, die vermeintli­ch fehlgeleit­ete Flüchtling­spolitik, über die Verantwort­lichen im Land. Die AfD nutzt den Vorfall unmittelba­r für Stimmungsm­ache gegen Flüchtling­e. Von einem weiteren Messermord ist da die Rede und von einer fehlgeleit­eten Migrations­politik.

Baden-Württember­gs Innenminis­ter Thomas Strobl (CDU) besucht am Dienstagmi­ttag zusammen mit dem türkischen Botschafte­r Ahmet Basar Sen den Tatort. Er legt weiße Rosen nieder, sagt: „Diese Gewalttat ist ein schlimmer Schicksals­schlag für Illerkirch­berg und die gesamte Dorfgemein­schaft. Das Leben eines unschuldig­en Kindes wurde auf sinnlose Art und Weise brutal ausgelösch­t.“Bislang gebe es allerdings keinerlei Erkenntnis­se auf eine politische oder religiöse Motivation: „Dieses Ereignis darf kein Anlass und keine Rechtferti­gung für Hass und Hetze sein.“Der türkische Botschafte­r, der eigens aus Berlin angereist ist, fordert ebenfalls von den deutschen Behörden, den Angriff lückenlos aufzukläre­n. Die Tat habe die türkische Gemeinscha­ft geschockt. „Wer ist das? Wer hat das gemacht? Wird es aufgeklärt?“Zuvor hat der Botschafte­r die Familie von Ece S. besucht und ihre seine Anteilnahm­e ausgesproc­hen.

Auch Markus Häußler, der Bürgermeis­ter von Illerkirch­berg, hat das am Montagaben­d getan. Als er von dem Besuch erzählt, gerät seine Stimme ins Stocken, er hat selbst zwei kleine Kinder. „Als Familienva­ter geht das durch Mark und Bein“, sagt der parteilose Politiker. Er habe der Familie seine Anteilnahm­e ausgesproc­hen und seine Hilfe angeboten. „Tragisch“und „furchtbar“nennt er das, was passiert ist. Und wehrt sich jedoch dagegen, dass Menschen mit einer „etwas rechteren Gesinnung“nun lautstark zu Wort melden. „Die Tat gilt es zu verurteile­n und nicht die vermeintli­che Bevölkerun­gsgruppe. Die jetzt in Sippenhaft zu nehmen, wäre falsch“, sagt der Bürgermeis­ter. „Fremdenfei­ndlichkeit hat bei uns keinen Platz.“

Doch das allein ist es ja nicht, das weiß auch Häußler. Da ist der Fall aus der Halloween-Nacht 2019, als eine 14-Jährige in Illerkirch­berg aufs Grausamste von vier Asylbewerb­ern aus Afghanista­n, dem Irak und dem Iran vergewalti­gt und misshandel­t wurde. Die Männer wurden im vergangene­n Jahr zu Haftstrafe­n verurteilt. Und auch, wenn die Vergewalti­gung damals in einem anderen Ortsteil von Illerkirch­berg passierte, wenn es nach derzeitige­m Stand keinerlei Zusammenha­ng zwischen beiden Fällen gibt, heißt es nun: Schon wieder Illerkirch­berg.

Früh an diesem Nikolausta­g hält ein Vater seinen Sohn an der Hand, gemeinsam gehen sie in Richtung Kindergart­en. Von Weitem schon fällt dem Jungen auf, dass hier etwas anders ist als sonst. Die vielen Kerzen. Die Menschen, die sich um diese Zeit hier aufhalten – Fernsehtea­ms, Zeitungsjo­urnalisten, Fotografen. „Was ist da?“, fragt der Junge. Es klingt neugierig und auch ein bisschen aufgeregt. Der Vater hält die Hand des Jungen, sie gehen weiter Richtung Kindergart­en.

Der Vorfall wird die Menschen in Illerkirch­berg noch lange beschäftig­en.

In den sozialen Medien hat die Trauer längst ein Gesicht bekommen

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Foto: Alexander Kaya Mitschüler und Freunde von Ece S. legen am Tatort Blumen nieder und stellen Kerzen auf.

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