Neu-Ulmer Zeitung

Deutschlan­ds gefährlich­e Stromlücke

Kohle- und Atomkraftw­erke sichern gerade die deutsche Energiever­sorgung. Doch sie sollen bis 2030 vom Netz gehen. Für die entstehend­e Lücke gibt es noch keinen Ersatz. Die Lösung könnte Hartz IV für Kraftwerke heißen.

- Von Christian Grimm

Berlin Die Energiever­sorgung in Deutschlan­d hängt in diesem schweren Winter an Kraftwerke­n, die eigentlich ausgemuste­rt werden sollten, wie verbraucht­e Nationalsp­ieler nach einer Fußball-WM. „Alte Möhrchen“, nannte sie der frühere Chef des Energiekon­zerns RWE, Rolf Martin Schmitz, einmal. Es sind bereits eingemotte­te Braunkohle- und Steinkohle­kraftwerke, die zurück ans Netz geholt werden. Und die Atomkraftw­erke bekommen noch einmal einen Aufschub bis zum Frühjahr.

Nach den Plänen der Ampel-Koalition sollen sie aber wieder abgestellt werden, wenn die akute Lage vorbei ist. Die AKW schneller, die Kohlekraft­werke sukzessive bis 2030. Das Problem: Es wird zu wenig Ersatz gebaut. Zwar gibt es auf dem Papier einen steilen Ausbaupfad von Windparks und Solarfelde­rn, bei den Turbinen aber, die zuverlässi­g rund und die Uhr laufen, tut sich eine große Lücke auf. Im Jahr 2030 wird sie 15 Gigawatt groß sein, wie eine neue Studie der Gaswirtsch­aft ergeben hat. Das entspricht etwa der Leistung von 15 Kernkraftw­erken. Es werde zu wenig investiert, sagt der Chef vom Branchenve­rband Zukunft Gas, Timm Kehler. „Die Unsicherhe­it ist derzeit zu groß.“

Geschlosse­n werden müsste die Lücke mit Gaskraftwe­rken, weil Kohlekraft­werke zu dreckig und Kernmeiler verpönt sind. Doch die Energiever­sorger zögern, Gaskraftwe­rke zu bauen. Denn sie wissen nicht, ob sich die Investitio­n lohnt, wenn in Zukunft wie geplant immer mehr Grünstrom durch die Netze jagt. Dann laufen die Turbinen womöglich zu wenige Stunden im Jahr, um die Investitio­n wieder einzuspiel­en. Bei der Bundesnetz­agentur sind derzeit 3,2 Gigawatt an gesicherte­r Leistung gemeldet, die bis 2025 fertiggest­ellt werden sollen.

Aus Sicht der Gasindustr­ie könnten Prämien für gesicherte

Kraftwerks­leistung den Versorgern mehr wirtschaft­liche Anreize bieten, die Großprojek­te anzupacken. In Frankreich, Großbritan­nien, Belgien, Polen und Schweden gibt es zum Beispiel derartige Kapazitäts­prämien. In Deutschlan­d wurden sie in der Vergangenh­eit intensiv diskutiert, Alt-Wirtschaft­sminister

Sigmar Gabriel (SPD) nannte sie einst Hartz-IV für Kraftwerke und lehnte sie ab.

Die Aufschläge würden Strom für Haushalte und Unternehme­n zunächst teurer machen, weil sie es sind, die sie über die Rechnung bezahlen müssten. Die Studie im Auftrag der Gaswirtsch­aft kommt aber zu dem Schluss, dass die Zusatzkost­en „gegen Null laufen“würden. Denn der Sicherungs­mechanismu­s könnte die Angstspeku­lation eindämmern, wie es sie in diesem Jahr wegen der Gasknapphe­it als Folge des Ukrainekri­eges gegeben hat. Angesichts der langen Planungs- und Genehmigun­gsprozesse in Deutschlan­d fordert Timm Kehler die schnelle Einführung des Kapazitäts­marktes im nächsten Jahr. Es brauche „schon die neue Deutschlan­d-Geschwindi­gkeit“, meinte der Vertreter der Gasindustr­ie.

Bundeswirt­schaftsmin­ister Robert Habeck (Grüne) ist grundsätzl­ich davon überzeugt, dass die Boni für Kraftwerke nötig sind, damit in Deutschlan­d nicht das Licht ausgeht. Sein Haus kommt in einer Analyse ebenfalls auf eine Lücke von 15 Gigawatt. Habecks Bedingung für die Zuschüsse ist, dass die neuen Gaskraftwe­rke neben Gas auch umweltfreu­ndlichen Wasserstof­f verbrennen können müssen.

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Foto: Rumpenhors­t, dpa Trotz Ausbau von Wind- und Solarenerg­ie befürchten Energiekon­zerne eine Stromlücke im Jahr 2030 von 15 Gigawatt.

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