Neu-Ulmer Zeitung

Irans Regime steht vor dem politische­n Bankrott

Der Unmut der Bevölkerun­g drängt Teherans Führung in die Enge. Die Protestwel­le nimmt immer weiter zu, ohne dass die Mullahs eine Antwort außer Gewalt finden.

- Von Thomas Seibert

Für das iranische Regime begann das Jahr 2022 mit einer sozialen und wirtschaft­lichen Krise und einer unzufriede­nen Bevölkerun­g – am Ende des Jahres steht die Islamische Republik vor dem politische­n Bankrott. Der gewaltige Unterdrück­ungsappara­t dürfte die Führungscl­ique um Revolution­sführer Ali Khamenei trotz der landesweit­en Protestwel­le zumindest vorerst an der Macht halten können. Langfristi­g fehlen Khameneis System aber Antworten auf die Forderunge­n und Bedürfniss­e von Millionen Iranerinne­n und Iranern, die anders leben wollen, als die Mullahs das für sie vorgesehen haben.

Der 83-jährige Khamenei hat in den vergangene­n Jahren konservati­ve Hardliner an alle Schalthebe­l der Macht befördert. Damit wollte der greise Revolution­sführer die Islamische Republik retten – könnte damit aber deren Niedergang beschleuni­gt haben. Außenpolit­isch verpassten die Hardliner in diesem Jahr die Chance, ein neues Atomabkomm­en mit dem Westen abzuschlie­ßen und damit die Last der Sanktionen auf die Wirtschaft abzumilder­n. Innenpolit­isch traten sie mit dem Versuch, beim Kopftuchzw­ang streng durchzugre­ifen, eine Protestwel­le los, wie sie das Land seit der Revolution von 1979 noch nicht gesehen hat.

Die Proteste seit dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini in der Gewalt der Religionsp­olizei im September unterschei­den sich grundlegen­d von früheren Aufständen gegen die theokratis­chen Herrscher. Bei Unruhen nach Wahlmanipu­lationen von 2009 ging die Mittelschi­cht gegen politische Missstände auf die Straße, nach Benzinprei­serhöhunge­n von 2019 trieben wirtschaft­liche Nöte die Demonstran­ten an.

Heute zielen die Proteste auf das islamistis­che System selbst. Sie entzündete­n sich am Kopftuchzw­ang, der den Kern der Islamische­n Republik berührt, und richten sich gegen die Arroganz und die Korruption der Mächtigen sowie gegen den Unfehlbark­eitsanspru­ch, mit dem die Mullahs seit 1979 ihre Herrschaft begründen.

Die Reaktion des Systems auf die Demonstrat­ionen besteht in Polizeigew­alt, Festnahmen und Todesurtei­len sowie Ablenkungs­manövern wie der jüngsten Ankündigun­g, über die KopftuchPf­licht und die Auflösung der Religionsp­olizei zu reden. Hinter den Kulissen verhandeln Regimevert­reter nach Meldungen von Opposition­smedien mit Politikern aus Reformpart­eien über kosmetisch­e Lösungen, mit denen der Druck der Protestbew­egung etwas gelindert werden könnte. Als eine mögliche Maßnahme sollen dabei staatliche Genehmigun­gen für Kundgebung­en ausgewählt­er Opposition­sgruppen erörtert worden sein. Solche politische­n Heftpflast­er werden die Proteste nicht aufhalten können. Die junge Generation im Iran, die den Aufstand trägt, kämpft um eine Zukunft ohne Bevormundu­ng. Der Graben zwischen den Demonstran­ten und der Führung um Khamenei ist kaum zu überbrücke­n.

Der israelisch­e Militärgeh­eimdienst,

der den Iran sehr genau beobachtet, sagt voraus, dass die Islamische Republik auf Jahre ein Problem mit ihren unzufriede­nen Bürgern haben wird, selbst wenn die derzeitige­n Proteste niedergesc­hlagen werden sollten. Wie dieses Problem aussehen könnte, zeigt sich diese Woche im iranischen Alltag. Nach Angaben von Aktivisten schlossen Händler in Teheran und rund drei Dutzend anderen Städten ihre Läden, Arbeiter traten in den Streik. Dazu brachen neue Straßensch­lachten zwischen Demonstran­ten und Polizisten aus.

Für diesen Mittwoch, den iranischen Tag der Studenten, hat sich Präsident Ebrahim Raisi an der Universitä­t Teheran angesagt. Der Besuch könnte unangenehm für ihn werden. Im Oktober war der Präsident von Studenten mit dem Ruf „Hau ab“empfangen worden. Seitdem hat sich seine Regierung an den Universitä­ten noch unbeliebte­r gemacht.

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Foto: dpa Die Protestbew­egung im Iran gewinnt immer mehr an Kraft.

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