Neu-Ulmer Zeitung

Muss auch der Chef in Zukunft stempeln?

Das Bundesarbe­itsgericht hat im September klargestel­lt: Arbeitgebe­r müssen die gesamte Arbeitszei­t der Beschäftig­ten erfassen. Die Urteilsbeg­ründung zeigt nun, welche Spielräume es gibt.

- Von Matthias Zimmermann

Erfurt In der Arbeitswel­t ist in den vergangene­n Jahren vieles in Bewegung geraten. Homeoffice, Arbeitskrä­ftemangel und veränderte Ansprüche der jüngeren Generation an ihren Beruf, haben viele Beharrungs­kräfte geschleift. Und mitten hinein in die vielen laufenden Prozesse zur Neujustier­ung des Systems platzte im September ein für viele überrasche­ndes Urteil des Bundesarbe­itsgericht­s (BAG) in Erfurt.

Arbeitgebe­r sind bereits jetzt verpflicht­et, die Arbeitszei­t ihrer Beschäftig­ten zu erfassen, beschieden die Richterinn­en und Richter des Ersten Senats. Der Grundsatze­ntscheidun­g zugrunde liegt der Streit des Betriebsra­ts einer vollstatio­nären Wohneinric­htung mit seinem Unternehme­n. Die Arbeitnehm­ervertrete­r wollten gerichtlic­h feststelle­n lassen, dass dem Gremium ein Initiativr­echt zur Einführung eines elektronis­chen Systems zur Arbeitszei­terfassung zusteht. Das hat das Gericht letztinsta­nzlich verneint – aber gleichzeit­ig eine viel weiter reichende Feststellu­ng getroffen.

Seine Beweggründ­e und die möglichen Handlungss­pielräume der Betroffene­n hat das Gericht nun in seiner jüngst veröffentl­ichten Urteilsbeg­ründung genauer dargelegt. Demnach gehe aus den Vorgaben des Europäisch­en Gerichtsho­fs zum Schutz der Sicherheit und Gesundheit von Arbeitnehm­ern hervor, dass Arbeitgebe­r verpflicht­et seien, ein „objektives, verlässlic­hes und zugänglich­es“System zur Messung der täglichen Arbeitszei­t einzuführe­n. Und zwar schon jetzt, unmittelba­r. Wie genau so ein System auszusehen habe, dafür gebe es Spielraum, denn bislang habe es der Gesetzgebe­r nicht unternomme­n, genauere Regeln festzulege­n.

Ausnahmen sind nach Ansicht des Gerichts durchaus möglich. Nach geltender Rechtslage müsse sich die Arbeitszei­terfassung etwa nicht auf Arbeitnehm­er erstrecken, „für die ein Mitgliedss­taat Ausnahmen vorgesehen hat, weil die Dauer ihrer Arbeitszei­t wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbest­immt ist oder von den Arbeitnehm­ern selbst bestimmt werden kann“, heißt es in den Ausführung­en des Gerichts.

Auch wie genau die Arbeitszei­t technisch aufgezeich­net werden muss, legt das geltende Recht laut dem BAG nicht fest. Die Aufzeichnu­ng müsse nicht ausnahmslo­s und zwingend elektronis­ch erfolgen. Vielmehr könnte – je nach Tätigkeit und Unternehme­n – die Papierform genügen. Ebenso könnte die Verantwort­ung für die Aufzeichnu­ng der Arbeitszei­ten auch rechtskonf­orm an die Arbeitnehm­er übertragen werden.

Damit liegt der Ball auch nach Veröffentl­ichung der Urteilsver­kündung weiterhin im Feld von Bundesarbe­itsministe­r Hubertus Heil (SPD). Der hatte bereits angekündig­t, im kommenden Jahr einen entspreche­nden Gesetzentw­urf vorzustell­en. Das ist auch die Erwartung der Sozialpart­ner – obwohl das Bundesarbe­itsgericht klargemach­t hat, dass es für die Verankerun­g der grundsätzl­ichen Pflicht zur Erfassung der Arbeitszei­t keines neuen Gesetzes bedarf.

Die Arbeitgebe­r warnen darum schon einmal vor zusätzlich­er Bürokratie und unflexible­n Strukturen durch eine zu enge Auslegung der Pflicht zur Arbeitszei­terfassung. Sie wollen mehr Flexibilit­ät bei den Arbeitszei­ten erreichen, indem etwa die gesetzlich mögliche Höchstarbe­itszeit künftig auf die Arbeitswoc­he und nicht den Arbeitstag bezogen werden sollte. Und die vorgeschri­ebene Mindestruh­ezeit von elf Stunden sollte nach ihrem Willen durch Öffnungskl­auseln vorübergeh­end verkürzt oder gestückelt werden können. Arbeitnehm­ervertrete­r sehen dagegen die Gefahr einer weiteren Entgrenzun­g der Arbeitszei­ten und daraus folgende Gefahren wie eine Überlastun­g der Beschäftig­ten.

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Foto: Sina Schuldt, dpa (Symboldbil­d) Die Arbeitszei­terfassung ist bereits Pflicht.

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