Sie gab dem Bub aus der Donau ein Gesicht
Nach dem Fund eines toten Kindes setzt die Ingolstädter Polizei große Hoffnungen in die Rekonstruktionskünste von Rechtsmedizinerin Constanze Niess – und einen Auftritt im Fernsehen bei „Aktenzeichen XY... ungelöst“.
Vohburg/Frankfurt Irgendetwas kam dem Bootfahrer seltsam vor, als er im Frühjahr in der Donau dieses mit Folie umwickelte Paket, beschwert mit einem Stein, treiben sah. Es sah nicht aus wie einer jener Abfälle, die irgendjemand gedankenlos in den Fluss geworfen hatte. Er zog das Folienwirrwarr heran, schaute es genauer an – und informierte die Polizei. Erst einen Tag später war klar, dass das, was sich in dem Paket befand, kein Müll, sondern ein Mensch war. Und noch einen Tag länger brauchten die Gerichtsmediziner, um zu erkennen, dass dieser Mensch, der vermutlich wochenlang auf dem Fluss trieb, ein kleines Kind ist.
Das war vor einem halben Jahr. Seitdem hat sich niemand gemeldet, der den Jungen vermisst. Niemand, der den kleinen Bub gekannt hätte, kein Nachbar, keine Erzieherin, kein Lehrer. Da trieb ein totes Kind auf der Donau, das keinen Namen hatte und von dem niemand wusste, wie es einst zu Lebzeiten ausgesehen hat. Bis vor ein paar Wochen. Seither ist klar: Der Junge, der äußerlich kaum noch einem Menschen glich, war einst ein kleiner Bub im Kindergartenalter gewesen, mit Stupsnase, blauen Augen und feinen Lippen.
Constanze Niess, 54 Jahre alt, ist seit 1996 Rechtsmedizinerin an der Uniklinik in Frankfurt am Main. Ihre Aufgabe ist es, herauszufinden, wie Mordopfer zu Tode gekommen sind, ob Knochen aus dem Wald Überreste eines Menschen oder eines Tieres sind, ob Kinder mit Striemen und blauen Flecken Opfer eines Missbrauchs geworden sind. Schädel, Reste der Haut, verwesende Organe – Niess hat es jeden Tag mit dem Tod zu tun. Genau das, sagt sie, erleichtere ihr aber auch die Arbeit, wenn es darum geht, die Gesichter von unbekannten Toten zu rekonstruieren. Sie ist eine von wenigen Personen in Deutschland, die dieses Handwerk beherrschen. Vor gut 20 Jahren hat sie einen Vortrag von zwei Mitarbeiterinnen des FBI genau zu diesem Thema gehört. Das hat ihr Interesse geweckt, seitdem hat sie über 40 Gesichter nachgebildet.
Nicht bei allen hat die Polizei sie um Hilfe gebeten, manchmal waren es auch Museen. Sie hat das Aussehen von historischen Personen nachgebildet, Menschen, die vor vielen hundert Jahren gelebt haben, wieder ein Stück lebendiger gemacht. In rund 20 Fällen aber haben Ermittler all ihre Hoffnung in die Arbeit von Constanze Niess gesetzt. Immer dann, wenn sie eine Leiche hatten, die niemand kannte, die niemand vermisste, bei der DNA-Material oder das Zahnschema zu keiner heißen Spur führten. Wie bei einem Mann, der in einem Haus verbrannt war. Er hatte auffällig schiefe Zähne, eine Lippen-KieferGaumen-Spalte. Als das Gesicht, modelliert aus Plastilin, in der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist, hat ihn jemand erkannt. Es war eine Frau, bei der er Mietschulden hatte. Der Mann ist einer von rund zehn Fällen, die mit ihrer Hilfe bislang gelöst worden sind, schätzt Niess.
Auf einen solchen Erfolg hoffen nun auch die Ermittler aus Ingolstadt. Aus den Aufnahmen, die mittels eines Computertomografen vom Schädel des Jungen angefertigt worden sind, wurde mit einem 3D-Drucker eine Nachbildung erstellt. Dieser Plastikschädel stand dann bei Constanze Niess auf dem Arbeitstisch. Die hatte schon vorher alle Informationen zu dem Fall gesammelt: Sie hat sich die Sektionsberichte durchgelesen, die DNA-Analysen angesehen, um Information zur Augenfarbe zu haben. Dann hat sie blaue
Glasaugen bestellt, hat sie in die Augenhöhle des Schädels eingesetzt, geschaut, dass das Kind nicht schielt oder sie ihm unfreiwillig Glupschaugen verpasst. „Die Augen, das ist manchmal eine ziemliche Frickelei“, sagt sie. Anschließend hat sie Abstandshalter, sogenannte Weichteilmarker, am Schädel festgepinnt, um zu sehen, wie dick an welchen Stellen für gewöhnlich das Gewebe über dem Knochen ist. Mit Knete, Modellierstäben, Pinsel, Skalpell und Geräten, die zur Ausstattung von Zahnärzten gehören, ging sie an die künstlerische Arbeit.
„Ich mache mir ganz viele Gedanken über die Feinheiten des Gesichts“, sagt sie. Darüber, wie breit die Nasenflügel einst waren und wo sich die Augenbrauen befunden haben. Doch nicht alles verrät ein Schädel: Niess wird auf diese Weise nie erfahren, ob der oder die Tote abstehende Ohren hatte, viele Falten oder Warzen im Gesicht. Sie streicht das Plastilin über die Schädelreplik, überlegt, wie breit Nase und Mund waren, schaut, dass das Gesicht symmetrisch wird. Am schwierigsten sei die Mund-Nasen-Augen-Partie, sagt sie. „Manchmal gelingt die Nase nicht, manchmal sitze ich stundenlang an einer Oberlippe.“
An Stellen, für die sie keine Erkenntnisse hat, arbeitet sie so unauffällig wie möglich, modelliert die wahrscheinlichste Alternative. Sie wird keiner ihrer Skulpturen eine außergewöhnliche Frisur verpassen, sie gibt ihnen keine Hautund Haarfarbe. „Der Betrachter soll noch die Möglichkeit haben, seine Fantasie mit einfließen zu lassen.“Genauso wenig wie ein Phantombild sind auch Niess’ Skulpturen ein 1:1-Abbild der Natur.
Beim Jungen aus der Donau hat es rund sechs bis acht Wochen gedauert, bis er für die Nachwelt ein Gesicht hatte. Auch wenn er das erste Kind war, dessen Gesicht Constanze Niess rekonstruiert hat, auch wenn die anatomischen Daten für Kinder beschränkt sind: Ein außergewöhnlich schwieriger Fall sei der Junge nicht gewesen. Sie hatte hier nicht nur die Schädelknochen vollständig vorliegen, sondern auch noch Teile des Haars. Das habe die Arbeit erleichtert. Sobald ein Toter ein Gesicht hat, das weiß auch Niess, ist dem Fall eine besondere Aufmerksamkeit garantiert. Als die Polizei mit dem Bild Mitte November an die Öffentlichkeit gegangen ist, sind Zeugenhinweise im zweistelligen Bereich eingegangen, bestätigt ein Behördensprecher.
Ob sie sich auf das rekonstruierte Gesicht oder auf den Pflasterstein, mit dem der Junge beschwert worden ist, und nach dessen Herkunft die Polizei ebenfalls sucht, beziehen, konnte der Sprecher allerdings nicht sagen. Viel Hoffnung setzen die Ermittlerinnen und Ermittler nun auf die ZDFSendung „Aktenzeichen XY … Ungelöst“. Dort wird der Fall am Mittwoch, 7. Dezember, um 20.15 Uhr ausgestrahlt. Zu sehen sein wird auch der Kopf des Jungen, den Constanze Niess modelliert hat. Die sagt: „Es würde mich wahnsinnig freuen, wenn der Fall gelöst werden könnte.“