„Die Menschheit steht kurz vor einem Großen Filter“
Andreas Brandhorst schreibt in Romanen sehr erfolgreich über Krisen der Gegenwart und den Fragen der Zukunft. Er sieht in den kommenden Jahrzehnten das Endspiel für unsere nicht gerade intelligent wirkende Spezies – und spricht auch über Gott und Künstlic
Herr Brandhorst, nach dem Thriller „Das Bitcoin-Komplott“im März gibt es nun mit „Ruf der Unendlichkeit“den nächsten Science-Fiction-Roman von Ihnen – wie geht’s das? An wie vielen Büchern arbeiten Sie gleichzeitig? Wie groß ist Ihr Tagespensum? Andreas Brandhorst: Das sieht nach viel aus, ist es aber eigentlich gar nicht. Manchmal liegen die Erscheinungstermine der Bücher relativ eng beieinander, was aber nur selten etwas mit der Fertigstellung der Romane zu tun hat. Ich arbeite immer nur an einem Manuskript, und im Gegensatz zu einigen meiner Kollegen bin ich ein sehr langsamer Schreiber: Es werden pro Tag zwischen 3 und 6 Seiten. Aber, und das ist wichtig, eben jeden Tag. Ich schreibe immer, sieben Tage die Woche. Wenn ich tatsächlich einmal nicht den aktuellen Roman fortsetze, mache ich mir Notizen, plane Szenen oder recherchiere, weil ich für eine bestimmte Stelle zusätzliche Informationen brauche. Und ich schreibe sehr gern im Wechsel: Auf einen Thriller folgt Science Fiction, und umgekehrt.
Im „Bitcoin-Komplott“droht der Zusammenbruch des Weltwirtschaftssystems im Jahr 2028 und die Weltmachtübernahme durch die Manipulation der Digitalwährung. Liegt solchen Konstruktionen auch Aufklärerisches inne? Brandhorst: Ich denke gern und oft darüber nach, was geschehen könnte. „Was wäre, wenn…“Das ist vielleicht die wichtigste Frage, wenn ich beginne, einen Roman zu konzipieren, bei Thrillern und auch bei Science Fiction. Aber bei meinen Thrillern, die meistens in einer sehr nahen Zukunft spielen, ist die Plausibilität noch wichtiger als bei einer Geschichte in ferner Zeit auf fernen Welten. Das ist auch der Grund, warum die Recherche bei
Thrillern noch viel aufwendiger ist – ich versuche, die mögliche Realität so genau wie möglich abzubilden. Die Hintergrundinformationen müssen stimmen, es darf nichts „zurechtgebogen“sein, weil es der Autor für seine Geschichte so will. Die ökonomischen Details in „Das Bitcoin-Komplott“stimmen, und es gibt zahlreiche Anspielungen auf tatsächliche Personen und Institutionen. Man nehme nur „Whitestone“, größter Vermögensverwalter der Welt. Es ist leicht zu erraten, wer damit gemeint ist. Wie auch bei meinen anderen Thrillern geht es mir nicht nur darum, den Leser möglichst gut zu unterhalten. Ich möchte ihm auch etwas mitteilen. Ich möchte ihm einen Mehrwert geben, die Möglichkeit, bestimmte Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen.
Zögern Sie nicht mitunter, in eine Welt der kursierenden Verschwörungserzählungen solche zu entfalten? Mit wie viel Sorge oder Zuversicht blicken Sie auf die Welt? Brandhorst: Ich bin gewiss kein Verschwörungstheoretiker, mir geht es vor allem darum, gute, spannende, sachlich fundierte Geschichten zu erzählen. Meine Protagonisten hinterfragen oft den Schein, sie sind immer bestrebt, die Wahrheit herauszufinden, ob sie gefällt oder nicht. Das spiegelt meine grundsätzliche Einstellung wider. Ich glaube noch immer an die Kraft der Wahrheit. Leider sind es in den Social Media oft die lautesten Stimmen, die die größte Aufmerksamkeit erhalten, obwohl sie mit Wahrheit oft nicht viel zu tun haben. Darauf weise ich in meinen Romanen hin, und es bringt uns gleich zum nächsten Punkt: Die größte Sorge bereitet mir die zunehmende Unvernunft des Menschen, die uns alle in große, wirklich große Schwierigkeiten bringen könnte, von der Klimakrise bis zum russischen Überfall auf die Ukraine und darüber hinaus. Wenn wir dafür sorgen, dass die Stimmen von Wahrheit und Wissenschaft lauter werden, können wir ein Gegengewicht schaffen. Dann gelingt es uns vielleicht, die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in eine bessere Richtung zu lenken.
„Ruf der Unendlichkeit“spielt in ferner Zukunft, es droht die Ausrottung der Menschheit, neben der es viele weitere Spezies gibt. Was macht die Menschheit aus? Und wird es uns wirklich noch in ferner Zukunft geben? Brandhorst: Man versuche einmal, die Spezies Mensch von „außen“zu sehen, mit den Augen von Außerirdischen.
Was würden sie erkennen? Eine Schar egoistischer, egomanischer Individualisten, die vor allem an sich selbst denken, von heute auf morgen leben, immer wieder auf mehr oder wenige charismatische Psychopathen hereinfallen, nichts aus ihrer Geschichte lernen und auf dem besten Weg sind, ihren eigenen Lebensraum zu zerstören. Besonders intelligent klingt das nicht. Was der Grund dafür sein mag, dass Außerirdische bisher darauf verzichtet haben, einen offiziellen Kontakt herzustellen. Vielleicht werden wir beobachtet, beurteilt und gemieden. Die Menschheit steht kurz vor einem „Großen Filter“, der darüber entscheidet, ob wir zu einer interplanetaren oder gar interstellaren Spezies werden können. Wir müssen die Klimakrise überwinden und verhindern, dass Leute wie Putin Tausende von Menschen in den Tod treiben können – das sind zwei Punkte auf einer langen Liste. Wenn es uns das nicht gelingt, und zwar in den nächsten Jahrzehnten, wird die Entwicklung der Menschheit am Großen Filter scheitern. Dann wären wir nur eine kurze Episode in der Geschichte des Lebens auf der Erde und nicht einmal eine kleine Fußnote in der biologischen Historie der Galaxis.
Es geht auch um die Frage nach Gott und Religion. Einerseits wirkt die Annahme einer „Divinität“sogar für eine sehr fortgeschrittene Künstliche Intelligenz plausibel zur Lösung der Rätsel von Welt und All – andererseits benützt eine „die Blender“genannte, sehr fortgeschrittene Spezies Religion zur Manipulation primitiverer Gesellschaften. Sie das Ihre wirklichen Antworten? Brandhorst: Auf der Erde sind im Namen der Religion Millionen von Menschen auf brutalste Weise umgebracht worden. Man denke nur an die Hexenverbrennungen im Mittelalter oder die „Missionierung“der nord- und südamerikanischen Ureinwohner. Religion war und ist bei uns immer ein Instrument zur Ausübung von Macht gewesen. Sie mag manchmal auf Schmerz und Blut verzichten, nicht aber darauf, unser Denken und Fühlen zu manipulieren. Unsere Angst vor dem Tod und davor, was danach kommt oder kommen könnte, bietet dem kirchlichen Monopol auf das „Leben im Jenseits“einen hervorragenden Ansatzpunkt. In „Ruf der Unendlichkeit“übertragen die Blender dieses Prinzip auf zahlreiche andere Welten, aber es gibt auch eine Macht, die ihren Manipulationen entgegenwirkt. Die Trennung von Kirche und Staat ist eine der größten Errungenschaften der westlichen Zivilisation. In islamistischen Staaten können wir sehen, was geschehen kann, wenn eine solche Trennung nicht erfolgt. Ich wäre sehr dafür, auch unsere „Blender“zu entlarven und zu entmachten.
Wie wahrscheinlich ist, wovon Tech-Propheten künden, dass Computer unserem Hirn in der „Singularität“ebenbürtig sein werden und wir mit deren Hilfe in ferne Universen reisen können? Brandhorst: Ich verstehe unter „Singularität“den Punkt, an dem Künstliche Intelligenz zu echter Maschinenintelligenz wird, an dem KI ein eigenes Bewusstsein erlangt. Wenn das geschieht, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer wahren Explosion von Intelligenz kommen – die Leistungsfähigkeit der Maschinenintelligenz wird exponentiell wachsen. Das habe ich in „Das Erwachen“und „Die Eskalation“geschildert, auf der Grundlage von zur Zeit des Schreibens aktuellen Forschungen. Inzwischen sind weitere erhebliche Fortschritte bei der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz gemacht worden, und ich bin ziemlich sicher, dass wir schon bald eine solche „Singularität“erreichen könnten. Wenn das geschieht, werden wir nicht mehr die dominante intelligente Lebensform auf dem Planeten Erde sein. Maschinenintelligenz wird eine neue Stufe der Evolution darstellen und könnte uns tatsächlich dabei helfen, das menschliche Bewusstsein zu digitalisieren oder Menschen zu „transhumanisieren“. Sehr langlebige und widerstandsfähige Cyborgs wären denkbar, Verschmelzungen von Mensch und Maschine, die es uns erlauben, Jahrhunderte oder Jahrtausende zwischen den Sternen unterwegs zu sein und ferne Welten zu erreichen.
Interview: Wolfgang Schütz