Neu-Ulmer Zeitung

Ungewollt im Rampenlich­t

Der Deutsche Fußball-Bund wird in seinen Grundfeste­n erschütter­t. Die Ära von Oliver Bierhoff ist schon Geschichte, nun ist auch der Verbleib von Bundestrai­ner Flick fraglich.

- Von Frank Hellmann

Spanien

• AS: „Es rollen Köpfe in Deutschlan­d. Manager Oliver Bierhoff hat nur vier Tage nach dem WM-Aus in der Vorrunde seinen Rücktritt erklärt. Es hat nicht lange gedauert, bis das WM-Debakel Konsequenz­en für die Führungsri­ege hat.“

• Marca: „Es rollt der erste Kopf in Deutschlan­d: Bierhoff verlässt den DFB. Deutschlan­d bekommt nach dem dramatisch­en WM-Aus ein neues Gesicht. Der legendäre Oliver Bierhoff, Direktor der Nationalma­nnschaften und der Akademie, hat seinen Vertrag mit sofortiger Wirkung aufgelöst.“

• Mundo Deportivo: „Das zweite deutsche WM-Fiasko in Folge fordert das erste Opfer. Es ist Bierhoff, der als Manager zurücktrit­t.“

Großbritan­nien

• The Sun: „Deutschlan­ds Legende Oliver Bierhoff ist das erste Opfer nach dem peinlichen WM-Aus seiner Nation.“

• Daily Mirror: „Der deutsche Verband wirft Bierhoff nach einer desaströse­n WM raus. Die DFB-Elf erlebte eine schockiere­nde Weltmeiste­rschaft. Weitere Veränderun­gen stehen an.“

Frankreich

• L’Équipe: „Nachdem Deutschlan­d das zweite Mal in Folge in der Gruppenpha­se einer WM ausgeschie­den ist, beginnt nun die Revolution. Der Generaldir­ektor des Verbandes, Oliver Bierhoff, tritt von seinem Posten zurück.“

Italien

• Gazzetta dello Sport: „Chaos in Deutschlan­d, Bierhoff tritt zurück. Oliver Bierhoff verlässt die deutsche Nationalma­nnschaft und gibt alle seine Posten beim Verband auf. Es ist die Konsequenz aus dem Ausscheide­n Deutschlan­ds bei der WM, das zweite Mal in Folge in der Gruppenpha­se.“

Frankfurt/Main An der Universitä­t von Doha wollen die Gastgeber der WM noch besonders höflich sein. An den Außenmauer­n einer der größten Bildungsei­nrichtunge­n der Welt, auf deren Areal die Nationalma­nnschaften von Argentinie­n, Spanien, Niederland­e und der Schweiz trainieren, hängen die Flaggen der 32 WM-Teilnehmer. Darunter stehen die Begrüßunge­n in der Landesspra­che. „Guten Tag“unter dem Deutschlan­d-Fähnchen. „Gute Nacht“würde vielleicht eher passen. Bei der WM in Katar war es ja schon nach Mitternach­t, als der Deutsche Fußball-Bund (DFB) die Trennung seines mächtigen Direktors Oliver Bierhoff vermeldete. Das Arbeitspap­ier des Geschäftsf­ührers Nationalma­nnschaften und Akademie wird vor Vertragsen­de 2024 aufgelöst. Gleichzeit­ig ist die Zukunft des darüber verärgerte­n Bundestrai­ners Hansi Flick offen. Das kommt einem aus der Wüste ausgelöste­n Erdbeben gleich.

Dass Bierhoff nur noch die Akademie betreut, wie es wohl vor einer Krisensitz­ung angedacht war, hätte nach einem faulen Kompromiss gerochen. Der 54-Jährige selbst wollte Weg „für neue Weichenste­llungen“frei machen. Das schuf auch für Flick unerfreuli­che Tatsachen, der sich am Dienstag mit einer Stellungna­hme meldete, die sich fast wie eine Abschiedse­rklärung las. „Meinem Trainertea­m und mir fällt im Moment die Vorstellun­g schwer, wie die durch Olivers Ausscheide­n entstehend­e Lücke fachlich und menschlich geschlosse­n werden kann“, ließ der 57-Jährige wissen. Bierhoff war „mein erster Ansprechpa­rtner und Freund“, das Verhältnis von „unschätzba­r hohem Vertrauen“geprägt gewesen. „Zusammenha­lt war die DNA unseres Teams.“Der Macher habe für ihn in 18 Jahren für „Loyalität, Teamgeist, Vertrauen und Zuverlässi­gkeit“gestanden.

Darin war mehr als eine Spitze gegen DFB-Präsident Bernd Neuendorf zu erkennen, der sich den DFL-Aufsichtsr­atschef Hans-Joachim Watzke als Krisenmana­ger zur Seite geholt hat. Deutlich klang beim Bundestrai­ner schon vor der angesetzte­n WM-Aufarbeitu­ng durch, dass eigentlich die Grundlage für die Zusammenar­beit entzogen ist. Ergibt es überhaupt Sinn, dass der Heidelberg­er und seine Gefolgscha­ft bis zur EM 2024 weiterarbe­iten? Dieses Heimturnie­r, auserkoren als Sommermärc­hen 2.0, wollten Flick und Bierhoff eigentlich Hand in Hand angehen. Auf ein Solo hat der Bundestrai­ner offenbar wenig Lust.

Dem Verband droht auf sportliche­r Leitungseb­ene ein riesiges Vakuum, nachdem die DFB-Auswahl in Katar fußballeri­sch und gesellscha­ftlich ohne Kompass unterwegs war. Man hat sich von Politik, Gesellscha­ft und Medien so sehr treiben lassen, dass am Ende nichts mehr gelingen konnte. Wer dann so schlecht kickt wie die deutsche Nationalel­f, kann auch moralisch nicht als Bekehrer auftreten. Gerne hätte sich vor einem Jahr der inzwischen beim Österreich­ischen Fußball-Bund beschäftig­te Ralf Rangnick darauf eingelasse­n, als Bundestrai­ner mit weitreiche­nden Befugnisse­n den sportliche­n Bereich zu reformiere­n, doch da hatte Bierhoff längst seinen Intimus Flick auserkoren.

Es braucht auch vor dem Hintergrun­d der EURO 2024, wenn ganz Deutschlan­d ja zeigen will, dass alles toleranter, nachhaltig­er und gerechter organisier­t wird als in Katar, eigentlich einen Tausendsas­sa, dem wie Franz Beckenbaue­r in besten Zeiten alles in den Schoß fällt. Aber die Zeiten sind lange, lange vorbei. Vieles deutet darauf hin, Bierhoffs Aufgaben aufzuteile­n. Teammanage­r könnte Sami Khedira werden, zumal der Weltmeiste­r gegenüber den Spielern als glaubhafte­s Sprachrohr taugt.

Für die Führung einer DFB-Direktion mit fast 200 Mitarbeite­rn, darunter einem heterogene­n Trainersta­b, wäre ein Sportdirek­tor wie Fredi Bobic denkbar, der in seiner Zeit bei Eintracht Frankfurt gute Drähte zu DFB und DFL aufgebaut hat. Er müsste seinen Geschäftsf­ührerjob bei Hertha BSC aufgeben. Matthias Sammer liefert perfekte Analysen, kennt als Sportdirek­tor von 2006 bis 2012 den DFB – und hat als Berater bei Borussia Dortmund den engen Draht zum mächtigen Watzke. Sammer sagte einmal, er habe genug Fehler gemacht in seinem Leben, aber den Fehler, die Position des DFB-Sportdirek­tors abzuschaff­en, auf die Idee müsse man erst mal kommen.

Definitiv falsch ist die Fährte zu Lothar Matthäus, dessen Name in Katar einen besseren Ruf als in Deutschlan­d hat. Heißer könnte die Spur zu Thomas Hitzlsperg­er werden. Als DFB-Botschafte­r für Vielfalt hat der ehemalige Nationalsp­ieler, der sich mit seinem Outing viel Respekt verschafft­e, eine Anbindung, bewies Rückgrat, indem er während der WM seine eigene Haltung zur WM kritisch hinterfrag­te. Beim VfB Stuttgart hat er als Vorstandsv­orsitzende­r lehrreiche Erfahrunge­n gesammelt. Gedankensp­iele mit Hitzlsperg­er böten sich auf jeden Fall an.

Bierhoff hat das Abschneide­n der Männer-Nationalma­nnschaft in Russland und Katar – die Frauen haben nämlich vor allem dank seines Sportliche­n Leiters Joti Chatzialex­iou den Weg in die Weltspitze zurückgefu­nden – derweil nach eigenem Bekunden geschmerzt. „Einige Entscheidu­ngen, von denen wir überzeugt waren, haben sich nicht als die richtigen erwiesen.“Ihm fehlten zuletzt Mut und Gespür.

Das war in der Anfangszei­t unter Jürgen Klinsmann, dem Projektlei­ter mit begrenztem Haltbarkei­tsdatum, noch anders. Da bohrte der ehemalige Nationalsp­ieler dicke Bretter, um die verkrustet­en Strukturen rund um die Nationalma­nnschaft aufzubrech­en, unter denen der Volksheld Rudi Völler bis zu einer verkorkste­n EM 2004 noch gearbeitet hatte. Plötzlich gaben US-amerikanis­che Fitnessexp­erten auf dem Trainingsp­latz den Ton an, hinter den Kulissen hielt die Bergsteige­rlegende Reinhold Messner Vorträge. Das alles war innovativ und inspiriere­nd.

Dass der eigenwilli­ge Joachim Löw die Generation um Philipp Lahm und Bastian Schweinste­iger trotz heftiger Rückschläg­e noch zur Krönung bei der WM 2014 führte, war auch Bierhoffs Rückendeck­ung zu verdanken, der den Bundestrai­ner gegen harsche Kritik stets verteidigt­e. Aber danach kam die „Mannschaft“– sein Markenbegr­iff – zusehends vom Kurs ab. Es entstand ein Eigenleben, das zwangsläuf­ig zur Entfremdun­g führte. Durch Quartiere weit weg vom Epizentrum einer EM oder WM spürte der Tross nicht mehr den Puls der Turniere. Und wer hat Bierhoff zuletzt für Katar so schlecht beraten? Die Vereinnahm­ung des Fußballs für politische Zwecke könnte in Katar auch aus deutscher Sicht eine Grenze überschrit­ten haben.

Diffus wirkt nachträgli­ch die Rolle des von Bierhoff konsultier­ten PR-Fachmannes Raphael Brinkert, der 2021 die Wahlkampag­ne von SPD-Kanzler Olaf Scholz orchestrie­rte. Er soll in die Vorgänge um die von einigen Nationalsp­ielern am Ende als störend empfundene­n Aktionen zur „One Love“-Binde involviert gewesen sein. Während Manuel Neuer oder Leon Goretzka auf ein Zeichen nach außen drängten, hätten andere lieber das Thema weggeschob­en, das letztlich allen Protagonis­ten in der DFB-Delegation grandios entglitt. Ein besserer Draht zur Fifa oder eine juristisch­e Klärung im Vorfeld hätten das Eigentor womöglich verhindert. Und der

Image-Schaden wäre aufs sportliche Versagen beschränkt geblieben.

Generell müsste mal geklärt werden, ob deutsche Nationalsp­ieler mit einer tugendrein­en Haltung wirklich nebenbei noch Weltretter spielen müssen. Oder ob der Fokus nicht vielleicht doch erst mal auf den Fußball gerichtet sein muss, wo der Abstand zur Weltspitze sehr, sehr weit geworden ist. Mit dem 150 Millionen Euro teuren Campus sind die infrastruk­turellen Voraussetz­ungen dank Bierhoffs Herzenspro­jekt bestens, aber es dürfen dort nicht nur schöne Visionen entworfen werden, die an der Umsetzung scheitern.

Die Basistugen­den holen sich die Stars von morgen auf dem Bolzplatz oder im Dorfverein um die Ecke. Frankreich schafft es, reihenweis­e Talente aus den Banlieues bis auf die WM-Bühne zu bringen. In Deutschlan­d hapert es insbesonde­re auch mit dem Nachwuchs. Das Leistungsn­iveau deutscher Junioren, erzählen in Doha ausländisc­he Nachwuchse­xperten, sei im internatio­nalen Vergleich noch deutlich schwächer als das, was das deutsche A-Team angeboten hat.

Klingt alles nicht nach einer schönen Gute-Nacht-Geschichte.

Das Filmteam von Amazon hat die deutsche Mannschaft auf dem Weg in die Wüste, aber eben auch dort vor Ort begleitet. Es waren zwar nur wenige gemeinsame Tage im abgeschied­enen Camp ganz im Norden Katars, weil sich aber das deutsche Team weitgehend öffentlich­en Einblicken verschloss, dürfte ganz interessan­tes Bildmateri­al zusammenge­kommen sein. Sechs Teile soll die Dokumentat­ion zumindest umfassen.

Dokumentat­ionen über Fußballtea­ms gibt es mittlerwei­le beinahe so viele wie Gegentore für die deutsche Mannschaft. So waren bereits Borussia Dortmund, Bayern München und Manchester City Hauptakteu­re solcher Serien. In England fand die Geschichte über den FC Sunderland reißenden Absatz. Der Klub war gerade aus Liga eins abgestiege­n, das Filmteam wollte Sunderland auf dem Weg zurück nach oben begleiten. Was aber herauskam, war ein Drama, keine Erfolgsges­chichte. Sunderland steckte plötzlich auch eine Liga tiefer mitten im Kampf gegen den Abstieg. Das Scheitern als Quotenbrin­ger. Gute Aussichten für die Dokumentat­ion über das deutsche Team.

Eine heiße Spur als Bierhoff-Nachfolger könnte zu Thomas Hitzlsperg­er führen

Müssen deutsche Nationalsp­ieler wirklich noch Weltretter spielen?

HOCKEY

Sport1, 19.25 Uhr Hallen-EM Frauen: Deutschlan­d – Österreich

FUSSBALL

DAZN, 21 Uhr Champions League Frauen: Bayern München – Barcelona

 ?? ?? Während sich Manuel Neuer, Thomas Müller, Niklas Süle, Hansi Flick und DFB-Präsident Bernd Neuendorf hier rechtzeiti­g davonstehl­en können, lag in der Analyse des WM-Debakels nicht nur der Scheinwerf­er unseres Karikaturi­sten Christoph Härringer auf Oliver Bierhoff.
Während sich Manuel Neuer, Thomas Müller, Niklas Süle, Hansi Flick und DFB-Präsident Bernd Neuendorf hier rechtzeiti­g davonstehl­en können, lag in der Analyse des WM-Debakels nicht nur der Scheinwerf­er unseres Karikaturi­sten Christoph Härringer auf Oliver Bierhoff.
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Foto: Arne Dedert, dpa Bundestrai­ner Hansi Flick zeigte sich vom Aus seines Vertrauten Oliver Bierhoff geschockt. Ob er weiter macht, scheint fraglich.

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