Eugen Ruge: Metropol (110)
Roman von Eugen Ruge
Moskau, 1930er Jahre: Ein deutsches Agenten-Ehepaar in Sowjet-Diensten kehrt in die Stadt zurück, um sich für den Kontakt mit einem angeblichen Hochverräter zu rechtfertigen. Doch niemand zeigt Interesse an ihnen, den überzeugten Kommunisten. Im Hotel Metropol, wo sie Unterkunft finden, wohnen auch andere Agenten. Die aber verschwinden nach und nach…
© 2019 Rowohlt Verlag, Hamburg
Alles klar, sagt der Fahrer.
Was meint er mit Alles klar? Wassili Wassiljewitschs misstrauischer Blick wandert zum Rückspiegel, aber der Fahrer schaut geradeaus, macht seine Arbeit, belästigt ihn nicht mit irgendwelchen Anliegen.
Wassili Wassiljewitsch ist erleichtert, ja dankbar. Dankbar dafür, dass jemand mal nichts von ihm will.
Er gibt dem Fahrer ein übermäßiges Trinkgeld.So weit ist es also schon, denkt Wassili Wassiljewitsch, als er das Gebäude des Militärkollegiums betritt. Jetzt gibt er den Leuten schon Geld dafür, dass sie ihn nicht belästigen.
In seinem Büro zieht er die Uniform aus, knüllt sie in den Schrank. Zieht die Ersatzuniform an. Zum Glück hat er auch hier eine deponiert, sogar mit Ordensspange. Die alte Uniform wird er entsorgen und eine neue bestellen, die Hose ist ihm ohnehin zu eng geworden, und schließlich steht ihm jährlich eine neue Uniform zu.
Er geht ins Bad, betrachtet sich im Spiegel. Ihm ist nichts anzusehen, findet Wassili Wassiljewitsch. Den Orden hat er verbummelt, aber der lässt sich wiederbeschaffen …
Allmählich kommt er wieder zu sich. Die vertraute Umgebung hilft ihm dabei. Er geht zurück ins Büro, setzt sich an seinen Schreibtisch, auf den Stuhl, den sein Hintern auswendig kennt. Von hier aus, vom Zentrum seines
Lebens, kommt ihm das, was vor einer halben Stunde im Gemeinschaftswohnheim geschehen ist, schon weniger entsetzlich vor. Ferner, unwirklicher. Nur sein Versprechen wurmt ihn. Obwohl es ja fast Erpressung war. Und was hat er eigentlich versprochen? Er hat versprochen, sich die Sache noch einmal genau anzusehen, nicht mehr.
Wassili Wassiljewitsch blättert in den Papieren auf seinem Schreibtisch, holt sich die Akte Woinakowski heran, auf der aus unerfindlichen Gründen das Passbild fehlt. Vaterlandsverrat, Spionage, konterrevolutionäre Propaganda, die ganze Latte. Paragraphen 58.1, 58.3, 58.6… einschließlich Geständnis, hoffnungsloser Fall. Selbst wenn es passiert wäre heute Nachmittag, denkt Wassili Wassiljewitsch, hätte er nichts für den Mann tun können.
Insofern ist es in gewisser Weise sogar gut, dass nichts passiert ist. Im Grunde, wenn er ehrlich ist, hätte er die Gegenleistung gar nicht erbringen können. Andere tun das: Dinge versprechen, die sie nicht halten können. Aber ist das nicht irgendwie schäbig? Gewissenlos?
Wassili Wassiljewitsch starrt auf die Akte von Stanis?aw Woinakowski, genauer gesagt, er starrt knapp daran vorbei, ins Nichts, auf irgendeinen Punkt im Raum, während in seinem Kopf noch einmal die quälendsten Minuten des Nachmittags ablaufen – wie er sich an ihrer Haut reibt, die dumme Unterwäsche dazwischen, ihre Schamlippen, die sich wie Plinsen anfühlen, sein vergebliches Gemache und Gestrample, ganz und gar hoffnungslos, er weiß es im Grunde vom ersten Augenblick an: Er kann es nicht …
Aber das braucht ihm nicht peinlich zu sein. Er kann so etwas nicht tun. Es wäre schäbig, gewissenlos. Und die Tatsache, dass er es nicht kann, zeugt doch, im Grunde genommen, davon, dass er, Wassili Wassiljewitsch, nicht schäbig und gewissenlos ist. Mögen andere es tun, mögen sie sich auf diese Weise bedienen, er kann es nicht. Ja, vielleicht ist er schwach. Aber ist seine Schwäche nicht Ausdruck einer gewissen, nennen wir es ruhig: Moral?
Er bestätigt das Urteil durch seine Unterschrift: Tod durch Erschießen.
Befriedigt über die eigene Unbestechlichkeit, schlägt er die Akte zu, nimmt sich die nächste vor, ganz automatisch: Laima Zeraus. Alias Hilde Tal. Aus Lettland, wie er. Irgendwie glaubt er sich zu erinnern.
War das nicht die Fleischertochter? Oder arbeitete sie in der Fleischfabrik? Ein Mannweib. Jung, große Klappe. Was weiß sie über ihn? Was könnte sie wissen? Wassili Wassiljewitsch mag keine Leute, die etwas über ihn wissen könnten. Insbesondere keine, die wissen könnten, dass er am Polytechnischen Institut Kaufmann gelernt hat, nicht Jurist. Allerdings
hat die Frau auf dem Passfoto kaum Ähnlichkeit mit der Laima Zeraus, die er kennt. Eine eher füllige, weiche Person. Verwechselt er sie?
Er schaut sich die Anklage an: Paragraph 58.5, 58.6. Kein Geständnis. Aber Aussagen von Abramow-Mirow, Melnikow und noch ein paar Leuten, die er nicht kennt. Bei Frauen entscheidet er sich meistens für zehn Jahre Lager. Aber warum eigentlich? Herrscht nicht Gleichberechtigung in der Sowjetunion?
Tod durch Erschießen, entscheidet Wassili Wassiljewitsch. Er setzt seine Unterschrift unter das Urteil, nimmt sich die nächste Akte vor… Aber dann fällt ihm ein, dass heute Feiertag ist. Und er sitzt hier schon wieder und schuftet.
Während die anderen bei Woroschilow Haselhuhn fressen und Champagner saufen. Irgendwie kränkt es ihn doch, dass er nicht eingeladen ist. 111. Fortsetzung folgt