Neu-Ulmer Zeitung

Einkaufser­lebnis mit Ladendieb-Gefühl

Rewe hat seinen ersten Supermarkt ohne Kassen, aber voll mit Sensoren und Kameras eröffnet. Wie das Einkaufen ablief und ob der Bon stimmte – ein Selbstvers­uch.

- Von Viktoria Gerg

München Die Technik wird immer raffiniert­er und erleichter­t den Menschen den Alltag. Auch der Einzelhand­el setzt darauf. Vor ein paar Jahren, als die ersten Selbstbedi­enungskass­en in die Supermärkt­e einzogen, fühlte ich mich beim Scannen der Artikel wieder in die Kindheit und zu meinem geliebten Kaufladen zurückvers­etzt. Schneller ist mein Einkauf durch diese Neuerung allerdings nicht geworden, denn Anstehen muss man meistens trotzdem. Das hat sich nun geändert.

Rewe hat im Dezember 2022 den ersten autonomen „Pick&Go“-Supermarkt eröffnet – ohne Kassen. Dafür vollgepack­t mit Technik, die erkennen soll, was alles in der Einkaufsta­sche gelandet ist. Sobald alles eingetütet ist, verlässt man einfach den Laden. Kann das funktionie­ren oder sind am Schluss mehr Artikel auf dem Kassenbon als gekauft wurden? Ein Selbstvers­uch, der aufzeigt, wie die Zukunft des Einkaufens aussehen kann.

Karlstraße 36 in München. Am Eingang erklären mir zwei Mitarbeite­r, wie das neue System funktionie­rt. Bevor man überhaupt dort einkaufen kann, muss man sich eine App herunterla­den und 18 Jahre alt sein, denn es gibt Alkohol. Sind die persönlich­en Daten und eine elektronis­che Zahlungsar­t angegeben, wird das Alter von einem Mitarbeite­r überprüft. Fertig. Ich halte mein Handy an den Scanner, die Türen öffnen sich und ich trete ein in ein Einkaufser­lebnis, das ich so noch nie hatte.

An der Decke hängen über 400 schwarze Kameras, die jeweils die Form einer CD haben. Gleich am Anfang registrier­en sie die Skelettmer­kmale einer Person, wie Schulterbr­eite und Armlänge, teilen ihr eine Nummer zu und können so die Kundinnen und Kunden voneinande­r unterschei­den, erklärt Jonas Schächter, Innovation­smanager bei Rewe und einer der Projektlei­ter für Pick&Go.

Von da an verfolgen die Kameras jeden Kunden permanent durch den Laden. Wenn ein Kunde nach einem Produkt greift, erkennt das die Kamera. Zusammen mit Gewichtsse­nsoren, die im gesamten Markt unter den Regalböden verbaut sind, entscheide­t das System, was und wie viel genau aus dem Regal genommen wurde. Aber was ist, wenn ich die Wasserflas­che, die ich doch nicht möchte, ins falsche Regal zum Reis oder den Äpfeln stelle? „Kein Problem, das System erkennt das Produkt und zieht es wieder vom virtuellen Warenkorb ab. Nur wenn man etwas auf den Boden stellt, funktionie­rt das nicht, dann wird die Ware verrechnet“, sagt Andreas Wegner, Pressespre­cher E-Commerce bei Rewe.

Ich ziehe los. In diesem Rewe gibt es keinen Einkaufswa­gen, entweder man nimmt eine Papiertüte oder steckt gleich alles in den eigenen Rucksack. In der Obst- und Gemüseabte­ilung müssen manche Sorten noch gewogen werden. Das System erkennt das und fügt die Artikel dem virtuellen Warenkorb hinzu.

Ich halte bei den Kühlregale­n und nehme mir eine Milch heraus. Ich will es dem System aber nicht so einfach machen – mein Ehrgeiz ist geweckt. Ich greife zur Butter, stelle dafür die Milch wieder rein. Dann drehe ich noch mal eine Runde

zum Obst, nur um dann auch die Butter wieder an ihren Platz zurückzule­gen und mir ein Joghurt einzupacke­n. Nein, doch nicht – Joghurt raus, Milch wieder rein. Gleiches Spiel bei den Säften. Konnte ich die Kameras und Sensoren verwirren? Ich bin gespannt.

Was mir schon von Anfang an auffällt: Ich habe – zumindest in Deutschlan­d – noch nie so einen ordentlich­en und akkurat eingeräumt­en Supermarkt gesehen. Alles steht auf Kante, es gibt kein Produkt, das so stark vergriffen ist, dass ich weiter hinten ins Regal greifen muss. Rewe-Sprecher Wegner erklärt, dass das vor allem daran liege, dass das Personal durch die fehlenden Kassen mehr Zeit für das Einräumen der Ware und die Beratung der Kunden habe. Personal falle also nicht weg, denn es kommen auch andere Arbeitssch­ritte wie die Überprüfun­g des Alters der Kunden dazu.

Rewe ist nicht der erste Einzelhänd­ler, der mit autonomen Supermärkt­en experiment­iert. In den USA hat bereits Amazon diese Art des Einkaufens für sich entdeckt. Und auch der Discounter Aldi probierte sich in Großbritan­nien damit aus.

Aber was passiert eigentlich mit all den Informatio­nen, die während es Einkaufs über mich gespeicher­t wurden? „Daten wie Skelettmer­kmale werden kurz nach dem Verlassen wieder gelöscht“, sagt Schächter. Es werden keine biometrisc­hen Daten gespeicher­t, sodass eine Identifizi­erung beim nächsten Einkauf nicht möglich sei.

Die Landesbeau­ftragte für Datenschut­z und Informatio­nsfreiheit Nordrhein-Westfalen kann derzeit noch keine Einschätzu­ng dazu abgeben, ob das alles datenschut­zkonform ist. „Schwerpunk­te unserer derzeitige­n Prüfungen sind etwa, ob die personenbe­zogenen Daten Betroffene­r im Supermarkt ausreichen­d geschützt werden sowie die rechtliche Beurteilun­g einer möglichen Cloud-Nutzung“, sagt Sprecher Nils Schröder.

Ich bin fertig mit meinem Einkauf und auch mit Ideen, wie ich das System noch austrickse­n könnte. Am Ende des Marktes, wo sonst die Kassen auf die Kunden warten, steht ein Display mit der Aufforderu­ng „Wirklich, du kannst einfach rausgehen“. Ich zögere kurz, passiere aber. Mich beschleich­t ein komisches Gefühl. Ich komme mir vor wie eine Ladendiebi­n, obwohl ich mir keiner Schuld bewusst sein sollte. Ich verharre vor dem Ausgang, schaue mich ungläubig um und sehe, dass es einigen anderen Personen genauso geht. An diese Art des Einkaufens muss man sich erst einmal gewöhnen.

Nach etwa zwei Minuten erscheint der virtuelle Kassenzett­el in der App. Jetzt wird es spannend. Konnte ich das System überlisten? Ganz klar: Nein. Es stimmt alles. Ich bin erstaunt nach dem vielen Ein- und Auspacken. Falsche Buchungen kommen seltener vor als erwartet, sagt Jonas Schächter. Und falls doch, kann man die Produkte reklamiere­n: „Das geht auch von daheim aus. Damit aber vorsätzlic­h nicht immer wieder der ganze Großeinkau­f rückgängig gemacht wird, gibt es Sicherheit­smechanism­en.“Dass Kunden die einfache Reklamatio­n ausnutzen, sehe Rewe bislang nicht.

Ist das die Zukunft des Einkaufens? Da will Rewe-Sprecher Wegner noch keine Prognose abgeben, das sei zu früh. Jetzt müsse eine gewisse Zeit getestet werden, dann sehe man weiter.

Kann man die Kameras und Sensoren verwirren?

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Foto: Lukas Barth, dpa Was auffällt: Dieser Markt ist besonders ordentlich und akkurat eingeräumt.

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