Neu-Ulmer Zeitung

Reise durch die Dunkelheit

Die Ukrainerin Natascha fährt mit dem Bus von Deutschlan­d in ihre Heimat. Seit April hat die junge Geflüchtet­e ihren Mann nicht mehr in die Arme schließen können. Es ist ein Wiedersehe­n unter schweren Vorzeichen. Gerade erst haben Ärzte bei Andrii Krebs f

- Von Till Mayer

Kiew Es ist dunkel im Bus. Von der Decke leuchtet es matt und bläulich. Draußen gleitet die Nacht schwarz vorbei. Ab und an bricht das Licht einer Tankstelle die Finsternis. Natascha schaut mit angestreng­tem Blick aus dem Fenster, als könnte sie so die Nacht durchdring­en. Gelegentli­ch leuchtet das Smartphone ihr Gesicht aus. Dann ist wieder eine neue Nachricht von Andrii aufgeblink­t.

Viele Herzchen werden in dieser Nacht verschickt. Oft gleitet ein Lächeln über das Gesicht der 33-Jährigen, wenn sie seine Zeilen liest. Die beiden sind ungeduldig. Für Natascha fühlt es sich an, als würde diese Fahrt kein Ende nehmen wollen. Ihren Mann hat sie seit April nicht mehr gesehen. Das wird sich am frühen Nachmittag des nächsten Tages ändern, wenn sie nach über 30 Stunden Fahrt im Überlandbu­s in Kiew ankommen wird.

Der Bus ist in Deutschlan­d gestartet und hat die Ukraine als Ziel, gerade geht es über eine polnische Autobahn. Euro Club, Flixbus und andere Anbieter haben sich neben der Bahn in Kriegszeit­en als zuverlässi­ge und günstige Verkehrsmi­ttel behauptet. Flüge gibt es aufgrund des unsicheren Luftraums keine mehr in die Ukraine. Meist sind Frauen und alte Männer die Passagiere, wenn es über die Grenze geht. Männern zwischen 18 und 60 Jahren ist die Ausreise aus der Ukraine verboten. Sie müssen sich für eine Einberufun­g bereithalt­en. Es gibt Ausnahmen: Väter mit drei Kindern sind nicht mehr wehrpflich­tig, ebenso schwer Erkrankte.

Doch weibliche Fahrgäste sind mit Abstand die dominieren­de Gruppe in den Bussen. Fast alle sind Geflüchtet­e, die auf einen kurzen Heimatbesu­ch in die Ukraine fahren: zu Verwandten, Freunden und zu ihren Ehemännern. Oft können sie nicht mehr ihre Heimatorte besuchen. Dort wird gekämpft, die Wohnungen sind zerstört oder die Städte und Dörfer von russischen Truppen besetzt.

So ist auch der Mann von Natascha ein Binnenvert­riebener. Er lebt in Kiew. „Mein Andrii fehlt mir von ganzem Herzen. Ich finde keine Worte, das zu beschreibe­n“, sagt Natascha. Das Wiedersehe­n steht unter einem schweren, dunklen Schatten. In

Leise sagt die Frau: „Mein Andrii ist schwer, schwer krank“

den Augen der jungen Frau ist Traurigkei­t zu lesen. Andrii hat vor drei Wochen einen Krebsbefun­d bekommen. „Der Primärtumo­r ist noch unbekannt, aber sie haben schon Metastasen in der Leber gefunden. Mein Andrii ist schwer, schwer krank“, sagt die junge Frau leise auf Englisch.

Sie hätte ihren Mann schon gerne eher besucht. Doch dafür fehlte eine kleine Karte mit der Aufschrift „Aufenthalt­stitel“. „Ohne sie kann ich nicht in die Ukraine reisen. Ich habe die Karte erst seit Dezember“, sagt sie.

Im März floh sie mit ihrem Mann und dem sechsjähri­gen Kyrill aus dem heftig umkämpften Mariupol. „Wir konnten nicht länger bleiben. Es war zu gefährlich. Die ganze Stadt versank unter Beschuss in Trümmern. Unser Haus blieb verschont, aber ganze Stadtviert­el nicht“, berichtet sie. Mariupol ist zum Sinnbild geworden für einen brutalen Zerstörung­skrieg der russischen Armee. Vor allem den Sohn traumatisi­erten die Explosione­n, die Einschläge. „Das alles hat ihn so sehr verängstig­t.“Natascha streicht mit dem Finger auf dem Smartphone über Bilder der Zerstörung. „Das ist ein Telegram-Kanal von und für Menschen aus Mariupol“, erklärt sie, während Fotos und kleine Filme von Trümmern und Zerstörung erzählen. Auch das Restaurant, in dem sie als Verwaltung­sangestell­te arbeitete, hat einen Treffer abbekommen.

Natascha fehlt ihre Arbeit in dem italienisc­hen Lokal. Oder die Spaziergän­ge mit ihrem Sohn durch den angrenzend­en Regenbogen-Park. „Das ist mein absoluter Lieblingso­rt in der Stadt“, sagt sie. Auf einem Bild ist Kyrill zu sehen, wie er strahlend in einem sehr, sehr bunten Kinderland steht. „Das war auch im Park“, sagt

Natascha. Mariupol war in der Ukraine nicht unbedingt als Urlaubsort bekannt. Die Front zu den von Moskau gesteuerte­n Separatist­engebieten verlief nahe der Stadt. Am Meeresufer steht das wuchtige Stahlwerk. Der Qualm aus den Schloten galt als ein unschönes Wahrzeiche­n von Mariupol. Blies der Wind in Richtung Landesinne­re, drückte es Dampf und Rauch in die Straßen und Wohnblocks. Vor allem im Winter war die Luft oft schwer.

Dass Stahlarbei­ter wie Andrii jung an Krebs erkranken, gilt nicht als Einzelfall. Das Werk ist jetzt weltweit berühmt. Nicht für seine Gießerei, sondern weil sich dort die ukrainisch­en Verteidige­r verschanzt­en. Es war das letzte Schlachtfe­ld vor dem Fall von Mariupol.

Für Natascha ist die Stadt schlicht Heimat. Mit ihrem Mann hatte sie sich durch Fleiß ein Leben aufgebaut. Das Paar hat eine eigene Wohnung in einem der Blocks aus Sowjetzeit­en. Ob sie jemals nach Mariupol zurückkehr­en können – Natascha stellt sich diese Frage jetzt lieber nicht.

Ganz schnell wechselt sie das Thema. „Geschenke gibt es bei uns in der Ukraine zu Neujahr“, erzählt die junge Frau. Sie spricht von Weihnachte­n, dem orthodoxen Fest, das genau an dem Januartag gefeiert wird, als sie gerade im Bus sitzt. Schon zeigt sie das nächste Foto auf dem Smartphone. Ein üppig geschmückt­er Baum blinkt da. Daneben steht ein Weihnachts­mann mit silbrig-glänzendem Umhang, den Kyrill staunend betrachtet, während seine Eltern, Onkel und Tante ganz offensicht­lich bester Laune sind.

„Das war vor einem Jahr. Jetzt sitze ich zu Weihnachte­n hier im Bus“, sagt sie und schüttelt den Kopf. Vor zwölf Monaten lief der russische Truppenauf­marsch auf Hochtouren. Dass er zu einem solch brutalen Krieg führen würde, Natascha hatte sich das nicht vorstellen können. Sie zieht ihre eigenen Schlüsse aus dem Angriff, auch wenn diese nur nach einem kleinen Symbol klingen: „Nächstes Jahr feiern wir vielleicht, wie es immer mehr Ukrainer tun, Weihnachte­n auch am 24. und 25. Dezember. Dann hoffentlic­h in Frieden.“

Die Familie floh im März über Russland, die baltischen Staaten und Polen bis nach Deutschlan­d. „Wir waren im Bus oder mit der Eisenbahn unterwegs. Andrii hat uns in Sicherheit gebracht. Dann ist er wieder zurück in die Ukraine. Männer müssen sich für die Einberufun­g bereithalt­en“, erklärt Natascha. „Zum Glück hat er in Kiew auch Arbeit gefunden, in einer Bäckerei. Mein Andrii ist ein fleißiger Mann“, fügt sie hinzu.

Arbeit in der Ukraine zu finden, ist nicht leicht in diesen Tagen. Der Krieg trifft auch die Wirtschaft hart. Unternehme­n schließen oder produziere­n nur noch eingeschrä­nkt. Die Menschen müssen äußerst sparsam mit ihrem Geld haushalten, das merken die Dienstleis­ter. Dazu kommt es durch die gezielte russische Bombardier­ung der Energiever­sorgungsei­nrichtunge­n zu umfangreic­hen Strom-Rationieru­ngen im ganzen Land. Natascha wird sich mit ihrem Andrii nicht nur aus romantisch­en Gründen eher bei Kerzenlich­t zusammense­tzen müssen. Es sind dunkle Städte, in die die Busreisend­en zurückkehr­en. Nicht selten auch kalte Wohnungen, in denen sie unterkomme­n.

Durch die große Windschutz­scheibe des Busses scheint grelles Scheinwerf­erlicht. Die polnisch-ukrainisch­e Grenze ist erreicht. Die Pässe werden eingesamme­lt. Heute geht es schnell, nur eine halbe Stunde später das Gleiche auf der ukrainisch­en Seite. Die Passagiere dürfen den Bus verlassen. „Nutzen Sie die Zeit für die ukrainisch­en Toiletten“, witzelt der Busfahrer.

Die Menschen lachen gelöst. Dunkle Zeiten verlangen ein wenig schwarzen Humor.

Es sind übermüdete Gesichter, in die man blickt. Auch Natascha sieht man die gut 20 Stunden Fahrt an. Insgesamt keine Stunde Wartezeit an der Grenze, das ist rekordverd­ächtig schnell. Vielleicht liegt es am orthodoxen Weihnachts­fest, dass an diesem Tag weniger Menschen reisen.

Sonst müssen sich Busreisend­e vor allem bei der Ausreise aus der Ukraine nach Polen auf lange Wartezeite­n einstellen. Dann werden alle Gepäckstüc­ke aus den Bussen geholt und wie am Flughafen geröntgt. Die Kontrolle an der Schengengr­enze frisst Zeit. Sieben, acht oder neun Stunden für den Grenzübert­ritt sind nicht ungewöhnli­ch.

Jetzt springt der Motor des Busses wieder an. Die Pässe sind zurück, weiter geht es durch die Nacht. Natascha findet tiefen Schlaf, selbst an der nächsten Haltestell­e in Lwiw wacht sie nur kurz auf. In Riwne ist der Tag längst angebroche­n, dann folgt Schytomyr, und schließlic­h nähert sich der Bus der ukrainisch­en Hauptstadt. Dort sieht die 33-Jährige aus dem Fenster die Spuren der Zerstörung. Russische Truppen hatten Kiew zu Beginn der Invasion in die Zange genommen.

Davon erzählen jetzt Ruinen. Die letzten befinden sich kurz vor einer Waldlinie in den Außenbezir­ken der Stadt. Dort kämpfte schon die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg gegen die deutsche Wehrmacht, vom Bus aus sieht man ein kleines Denkmal stehen, das daran erinnert. Und dort brachten auch die ukrainisch­en Verteidige­r

den Vormarsch der russischen Armee zum Stehen. „Ich würde gerne wieder in die Ukraine zurückkehr­en“, sagt Natascha. „Wenn keine Raketen mehr fliegen, die meinen Sohn gefährden. Frieden herrscht. Bitte schreiben Sie in Ihrem Artikel, dass ich den Deutschen sehr dankbar bin.“Eine „wunderbare Familie“aus Hardheim in Baden-Württember­g habe sie aufgenomme­n – Natascha selbst, ihren Sohn, die Mutter und Schwiegerm­utter. „Das werde ich nie vergessen. Ich habe mir Arbeit gesucht, wir wollen niemandem zur Last fallen. Jetzt gilt es, meinen Mann zu holen. Es geht um sein Leben, er braucht jetzt mich und seinen Sohn, und wir ihn.“

Durch den Krieg ist das ukrainisch­e Gesundheit­ssystem überlastet. Ein Heer von Verwundete­n und Versehrten muss versorgt werden: Soldaten von der Front, aber auch Zivilisten, die Opfer der landesweit­en Luftangrif­fe und des Artillerie­beschusses

Natascha hat einen großen Wunsch. Und es bleiben ihr nur wenige Tage

sind. Zudem gibt es in der Ukraine kein Krankenver­sicherungs­system wie in Deutschlan­d. Die Behandlung­skosten in oft schlecht ausgestatt­eten Kliniken müssen die Patienten in weiten Teilen selbst stemmen. Die Überlebens­chancen von Andrii steigen deutlich, wenn er in Deutschlan­d behandelt wird. Das ist der größte Wunsch von Natascha. Jetzt muss es schnell gehen. Das weiß sie. Nur wenige Tage wird sie bleiben und ihrem Mann dabei helfen, die Papiere für die Ausreise zu bekommen. Dann hofft sie, dass er stark genug für die lange Busreise ist.

Hinter einem Wald tauchen die Hochhäuser von Kiew auf. Der Bus rollt in die mächtige Stadt. Unweit des Bahnhofs hält er an. Endstation. Schnell leeren sich die Sitzplätze. Natascha ist aufgeregt. Ihre unsicheren Hände brauchen ein wenig länger, um ihr Gepäck zu sortieren.

Draußen hält es ein Mann nicht mehr aus. Andrii steigt mit einem Blumenstra­uß in der Hand in den Bus. Natascha kann die Tränen nicht mehr zurückhalt­en.

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Fotos: Till Mayer Während der rund 30-stündigen Busfahrt bekommt Natascha so manches Herz von Andrii auf ihr Smartphone geschickt.
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Ein Wiedersehe­n nach unendlich langen Monaten: Natascha und ihr Mann Andrii. Gerade ist die junge Frau mit dem Bus aus Deutschlan­d angekommen.

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