Neu-Ulmer Zeitung

Immer mehr Einsätze, kaum Personal: Was die Arbeit von Sanitätern so erschwert

Der Rettungsdi­enst ist überlastet. Auch, weil viele Menschen den Krankenwag­en wegen Kleinigkei­ten rufen. Außerdem nehmen Aggression­en und Übergriffe zu. Wir sind einen Tag lang mitgefahre­n.

- Von Jonathan Lindenmaie­r

Gersthofen Mittwoch, 6.40 Uhr, Gersthofen. Christina Kugelmann und Philipp Döring bereiten sich darauf vor, Leben zu retten. Für die Sanitäter heißt das zuallerers­t: Ausrüstung prüfen. Schmerzmit­tel? Ausreichen­d vorhanden. EKG? Blinkt, piepst, funktionie­rt. Defibrilla­tor? Fährt hoch, „Rhythmusko­ntrolle durchführe­n“, sagt eine Computer-Stimme – passt auch. Zwölf Stunden Arbeit stehen den beiden bevor, fünf Einsätze, ständige Alarmberei­tschaft. Der Druck ist hoch. Und er steigt von Jahr zu Jahr. Viele Kolleginne­n und Kollegen schmeißen hin. Was läuft da falsch? Ein Tag mit Menschen, die täglich Leben retten.

7.46 Uhr, das Funkgerät piepst. Bei einer Firma in Gersthofen hat die Brandmelde­anlage Alarm ausgelöst. Döring und Kugelmann springen in die Fahrerkabi­ne, FFP2-Masken auf, Blaulicht an. Das Navigation­ssystem zeigt den Weg zum Einsatzort. In drei Minuten stehen sie vor einer Glasfassad­e im Industrieg­ebiet. Polizei und Feuerwehr sind da, aber keine Flammen, kein Rauch, keine Verletzten. Nach 15 Minuten steht fest: alles sicher, ein Feuer gab es nicht. Stattdesse­n: Fehler bei der Brandmelde­anlage. „Es kommt immer häufiger vor, dass wir zu Einsätzen gerufen werden, die kein Fall für den Rettungsdi­enst sind“, sagt Philipp Döring, kurze Haare, Brille.

Seit 1994 arbeitet er als Notfallsan­itäter, Christina Kugelmann seit 2017. „In diesem Fall ist es ein technische­r Fehler, das kann passieren“, sagt Döring. Aber das ist nicht immer so. Seit Jahren steige die Zahl der Bagatell-Einsätze, wie Döring es nennt. Statt sich von Verwandten in die Notaufnahm­e fahren zu lassen oder den ärztlichen Notdienst zu informiere­n, erwarten viele Menschen, dass der Rettungsdi­enst sie wegen Kleinigkei­ten zur Klinik chauffiert. „Darunter leiden dann die Patienten, die uns wirklich benötigen.“

Das bestätigt ein Blick in die Zahlen. Besonders stark nahmen zuletzt Einsätze zu, bei denen der Patient oder die Patientin nicht ins Krankenhau­s transporti­ert werden musste. Um 25 Prozent schnellte diese Zahl von 2021 auf 2022 nach oben. Meist kleinere Verletzung­en, Prellungen, ungefährli­che Schnittwun­den. Keine Fälle für den Rettungsdi­enst.

8.39 Uhr, der Alarm piept, nächster Einsatz. Eine Frau ist in ihrem Haus zusammenge­brochen, Verdacht auf Herzinfark­t. Vier Minuten dauert die Fahrt. Im Wohnzimmer schließt Kugelmann die Frau an ein EKG an. Sie fragt ab, welche Medikament­e die Frau einnimmt, spricht ihr Mut zu, kontrollie­rt die Krankenkas­senkarte. Ihre Bewegungen sind schnell, aber nie hektisch. Ein Infarkt scheint unwahrsche­inlich. Trotzdem muss die Frau ins Krankenhau­s. Blaulicht, Sirene, Abfahrt.

Philipp Döring informiert auf dem Weg die Notaufnahm­e der Uniklinik Augsburg. Bei der Ankunft steht eine Behandlung­skabine bereit. Hier endet der Aufgabenbe­reich der Sanitäteri­nnen und Sanitäter.

Döring und Kugelmann sind zwei von 6200 Einsatzkrä­fte, die für das Rote Kreuz in Bayern (BRK) arbeiten. Die Notrufe landen zunächst bei der Leitstelle. Dort fragen die Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r ab, wo der Patient oder die Patientin sich befindet und was vorgefalle­n ist. Die Leitstelle schickt dann den nächstgele­genen Einsatzwag­en los.

9.32 Uhr, nächster Alarm. Für eine Fahrt zurück zur Wache bleibt keine Zeit. Eine Seniorin leidet an Atemnot. Ihre Pflegerin hat die Einsatzzen­trale alarmiert. Es ist nicht das erste Mal, dass die Frau schlecht Luft bekommt. Auch sie muss in die Klinik. Motor an, Blaulicht, Sirene. Die Autos auf den Straßen halten an, wenn Kugelmann mit dem Rettungswa­gen über rote Ampeln fährt. „Das läuft nicht immer so flüssig“, sagt sie. „Man merkt, dass es einigen egal ist. Das kostet oft wertvolle Sekunden.“Der Respekt vor Rettungskr­äften lasse nach, sagt Kugelmann.

Nicht selten kommt es auch zu Anfeindung­en. Das BRK zählte im vergangene­n Jahr 55 Übergriffe auf Rettungskr­äfte. Die Täter: meist männlich, meist alkoholisi­ert. Zuletzt sorgten Angriffe in der Silvestern­acht für Aufsehen. Auch der Rettungswa­gen von Christina Kugelmann wurde von Raketen getroffen.

10.53 Uhr, nächster Alarm, wieder bleibt kaum Zeit, den Wagen für den nächsten Einsatz vorzuberei­ten. Ein krebskrank­er Mann muss mit Bauchschme­rzen in die Uniklinik. Erst vor einer Woche wurde er aus dem Krankenhau­s entlassen. „Das Problem bei solchen Fällen ist, dass die Klinik nicht viel für diese Patienten tun kann“, sagt Döring. „Zu Hause leiden sie an Schmerzen und die Verwandten müssen sie wieder in die Notaufnahm­e bringen. Das ist ein ewiges Hin und Her.“

Frank Flake ist zweiter Vorsitzend­er des Bündnisses Pro Rettungsdi­enst. Dass die Überlastun­g des Rettungsdi­enstes von Jahr zu Jahr steige, liegt Flake zufolge auch daran, dass viele Menschen die Notrufnumm­ern nicht kennen. Ein Großteil der Bagatell-Einsätze seien Fälle für die 116 117, den ärztlichen Notdienst. „Die Leute wissen gar nicht, welche Nummer sie wann rufen sollen“, sagt er. Dazu kommen strukturel­le Probleme. Es werde immer schwerer, Arzt-Termine zu bekommen. „Was tun die Menschen also, wenn sie starke Schmerzen haben? Sie gehen in die

Klinik. Und der ein oder andere ruft einen Rettungswa­gen.“

13 Uhr, Mittagspau­se. Zwischen den Einsätzen bleibt Zeit, um eine Kleinigkei­t zu essen, und durchzusch­naufen. Gearbeitet wird trotzdem. Döring und seine Kollegen erledigen Inventur im Lager, prüfen, was nachbestel­lt werden muss. Die Sanitäteri­nnen und Sanitäter sind ständig in Bereitscha­ft. „Pausen sind keine Pausen, der Körper ist ständig in Alarmberei­tschaft“, sagt Döring. „Und die Stresshorm­one verschwind­en mit den Jahren nicht. Wenn die Kollegen hier ruhig wirken, dann liegt das nur daran, dass man sich an das StressLeve­l gewöhnt hat.“

14.47 Uhr, letzter Einsatz. Wieder Verdacht auf Herzinfark­t. Ein Mann ist auf der Straße zusammenge­brochen. Er bekommt nur schwer Luft, der Rettungsdi­enst muss einen Notarzt anfordern. Das Problem: Der Patient spricht nur gebrochen Deutsch. Mit Übersetzer-Apps und einem Anruf bei einem russisch-sprechende­n Kollegen versuchen die Sanitäter herauszufi­nden, welche Vorerkrank­ungen der Mann hat und welche Medikament­e er einnimmt. Auch er muss in die Klinik. Bis eine Behandlung­skabine dort für den Mann bereitsteh­t, warten die Sanitäter. Dann geht es ein letztes Mal zurück zur Wache. Noch bis 19 Uhr sind sie in Bereitscha­ft.

Am nächsten Morgen steht ihnen wieder eine 12-StundenSch­icht bevor. Kommentar

Viele wissen nicht, dass es eine ärztliche Bereitscha­ft gibt

 ?? Foto: Nicolas Armer, dpa (Symbolbild) ?? Sanitäteri­nnen und Sanitäter retten täglich Leben. Aber das Personal wird knapp. Viele werfen hin und der Nachwuchs bleibt aus.
Foto: Nicolas Armer, dpa (Symbolbild) Sanitäteri­nnen und Sanitäter retten täglich Leben. Aber das Personal wird knapp. Viele werfen hin und der Nachwuchs bleibt aus.

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