Immer mehr Einsätze, kaum Personal: Was die Arbeit von Sanitätern so erschwert
Der Rettungsdienst ist überlastet. Auch, weil viele Menschen den Krankenwagen wegen Kleinigkeiten rufen. Außerdem nehmen Aggressionen und Übergriffe zu. Wir sind einen Tag lang mitgefahren.
Gersthofen Mittwoch, 6.40 Uhr, Gersthofen. Christina Kugelmann und Philipp Döring bereiten sich darauf vor, Leben zu retten. Für die Sanitäter heißt das zuallererst: Ausrüstung prüfen. Schmerzmittel? Ausreichend vorhanden. EKG? Blinkt, piepst, funktioniert. Defibrillator? Fährt hoch, „Rhythmuskontrolle durchführen“, sagt eine Computer-Stimme – passt auch. Zwölf Stunden Arbeit stehen den beiden bevor, fünf Einsätze, ständige Alarmbereitschaft. Der Druck ist hoch. Und er steigt von Jahr zu Jahr. Viele Kolleginnen und Kollegen schmeißen hin. Was läuft da falsch? Ein Tag mit Menschen, die täglich Leben retten.
7.46 Uhr, das Funkgerät piepst. Bei einer Firma in Gersthofen hat die Brandmeldeanlage Alarm ausgelöst. Döring und Kugelmann springen in die Fahrerkabine, FFP2-Masken auf, Blaulicht an. Das Navigationssystem zeigt den Weg zum Einsatzort. In drei Minuten stehen sie vor einer Glasfassade im Industriegebiet. Polizei und Feuerwehr sind da, aber keine Flammen, kein Rauch, keine Verletzten. Nach 15 Minuten steht fest: alles sicher, ein Feuer gab es nicht. Stattdessen: Fehler bei der Brandmeldeanlage. „Es kommt immer häufiger vor, dass wir zu Einsätzen gerufen werden, die kein Fall für den Rettungsdienst sind“, sagt Philipp Döring, kurze Haare, Brille.
Seit 1994 arbeitet er als Notfallsanitäter, Christina Kugelmann seit 2017. „In diesem Fall ist es ein technischer Fehler, das kann passieren“, sagt Döring. Aber das ist nicht immer so. Seit Jahren steige die Zahl der Bagatell-Einsätze, wie Döring es nennt. Statt sich von Verwandten in die Notaufnahme fahren zu lassen oder den ärztlichen Notdienst zu informieren, erwarten viele Menschen, dass der Rettungsdienst sie wegen Kleinigkeiten zur Klinik chauffiert. „Darunter leiden dann die Patienten, die uns wirklich benötigen.“
Das bestätigt ein Blick in die Zahlen. Besonders stark nahmen zuletzt Einsätze zu, bei denen der Patient oder die Patientin nicht ins Krankenhaus transportiert werden musste. Um 25 Prozent schnellte diese Zahl von 2021 auf 2022 nach oben. Meist kleinere Verletzungen, Prellungen, ungefährliche Schnittwunden. Keine Fälle für den Rettungsdienst.
8.39 Uhr, der Alarm piept, nächster Einsatz. Eine Frau ist in ihrem Haus zusammengebrochen, Verdacht auf Herzinfarkt. Vier Minuten dauert die Fahrt. Im Wohnzimmer schließt Kugelmann die Frau an ein EKG an. Sie fragt ab, welche Medikamente die Frau einnimmt, spricht ihr Mut zu, kontrolliert die Krankenkassenkarte. Ihre Bewegungen sind schnell, aber nie hektisch. Ein Infarkt scheint unwahrscheinlich. Trotzdem muss die Frau ins Krankenhaus. Blaulicht, Sirene, Abfahrt.
Philipp Döring informiert auf dem Weg die Notaufnahme der Uniklinik Augsburg. Bei der Ankunft steht eine Behandlungskabine bereit. Hier endet der Aufgabenbereich der Sanitäterinnen und Sanitäter.
Döring und Kugelmann sind zwei von 6200 Einsatzkräfte, die für das Rote Kreuz in Bayern (BRK) arbeiten. Die Notrufe landen zunächst bei der Leitstelle. Dort fragen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ab, wo der Patient oder die Patientin sich befindet und was vorgefallen ist. Die Leitstelle schickt dann den nächstgelegenen Einsatzwagen los.
9.32 Uhr, nächster Alarm. Für eine Fahrt zurück zur Wache bleibt keine Zeit. Eine Seniorin leidet an Atemnot. Ihre Pflegerin hat die Einsatzzentrale alarmiert. Es ist nicht das erste Mal, dass die Frau schlecht Luft bekommt. Auch sie muss in die Klinik. Motor an, Blaulicht, Sirene. Die Autos auf den Straßen halten an, wenn Kugelmann mit dem Rettungswagen über rote Ampeln fährt. „Das läuft nicht immer so flüssig“, sagt sie. „Man merkt, dass es einigen egal ist. Das kostet oft wertvolle Sekunden.“Der Respekt vor Rettungskräften lasse nach, sagt Kugelmann.
Nicht selten kommt es auch zu Anfeindungen. Das BRK zählte im vergangenen Jahr 55 Übergriffe auf Rettungskräfte. Die Täter: meist männlich, meist alkoholisiert. Zuletzt sorgten Angriffe in der Silvesternacht für Aufsehen. Auch der Rettungswagen von Christina Kugelmann wurde von Raketen getroffen.
10.53 Uhr, nächster Alarm, wieder bleibt kaum Zeit, den Wagen für den nächsten Einsatz vorzubereiten. Ein krebskranker Mann muss mit Bauchschmerzen in die Uniklinik. Erst vor einer Woche wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. „Das Problem bei solchen Fällen ist, dass die Klinik nicht viel für diese Patienten tun kann“, sagt Döring. „Zu Hause leiden sie an Schmerzen und die Verwandten müssen sie wieder in die Notaufnahme bringen. Das ist ein ewiges Hin und Her.“
Frank Flake ist zweiter Vorsitzender des Bündnisses Pro Rettungsdienst. Dass die Überlastung des Rettungsdienstes von Jahr zu Jahr steige, liegt Flake zufolge auch daran, dass viele Menschen die Notrufnummern nicht kennen. Ein Großteil der Bagatell-Einsätze seien Fälle für die 116 117, den ärztlichen Notdienst. „Die Leute wissen gar nicht, welche Nummer sie wann rufen sollen“, sagt er. Dazu kommen strukturelle Probleme. Es werde immer schwerer, Arzt-Termine zu bekommen. „Was tun die Menschen also, wenn sie starke Schmerzen haben? Sie gehen in die
Klinik. Und der ein oder andere ruft einen Rettungswagen.“
13 Uhr, Mittagspause. Zwischen den Einsätzen bleibt Zeit, um eine Kleinigkeit zu essen, und durchzuschnaufen. Gearbeitet wird trotzdem. Döring und seine Kollegen erledigen Inventur im Lager, prüfen, was nachbestellt werden muss. Die Sanitäterinnen und Sanitäter sind ständig in Bereitschaft. „Pausen sind keine Pausen, der Körper ist ständig in Alarmbereitschaft“, sagt Döring. „Und die Stresshormone verschwinden mit den Jahren nicht. Wenn die Kollegen hier ruhig wirken, dann liegt das nur daran, dass man sich an das StressLevel gewöhnt hat.“
14.47 Uhr, letzter Einsatz. Wieder Verdacht auf Herzinfarkt. Ein Mann ist auf der Straße zusammengebrochen. Er bekommt nur schwer Luft, der Rettungsdienst muss einen Notarzt anfordern. Das Problem: Der Patient spricht nur gebrochen Deutsch. Mit Übersetzer-Apps und einem Anruf bei einem russisch-sprechenden Kollegen versuchen die Sanitäter herauszufinden, welche Vorerkrankungen der Mann hat und welche Medikamente er einnimmt. Auch er muss in die Klinik. Bis eine Behandlungskabine dort für den Mann bereitsteht, warten die Sanitäter. Dann geht es ein letztes Mal zurück zur Wache. Noch bis 19 Uhr sind sie in Bereitschaft.
Am nächsten Morgen steht ihnen wieder eine 12-StundenSchicht bevor. Kommentar
Viele wissen nicht, dass es eine ärztliche Bereitschaft gibt