Neu-Ulmer Zeitung

Jagdsaison im Washington­er Sumpf

Für die neue rechte Mehrheit im US-Repräsenta­ntenhaus ist das oberste Ziel die Sabotage der amerikanis­chen Regierungs­politik. Dass Präsident Biden wichtige Geheimunte­rlagen in seiner Garage lagert, ist eine Steilvorla­ge für die Republikan­er. Was droht jet

- Von Karl Doemens

Washington Etwas hat sich verändert auf dem Washington­er Kapitolshü­gel. Man spürt es bald, wenn man das LongworthB­ürogebäude an der Independen­ce Avenue betritt und sich von dort durch das Labyrinth unterirdis­cher Gänge zum Plenarsaal im Südflügel des Kongress-Tempels vorarbeite­t. „Yes! We’re open“, verkünden jetzt rote Schilder an den Türen vieler Abgeordnet­enbüros – ein Hinweis auf die angeblich neue Transparen­z und die Abschaffun­g aller Corona-Restriktio­nen durch die frisch vereidigte republikan­ische Parlaments­mehrheit. Aus einigen Zimmern dringt ein ungewohnte­r Zigarrenge­ruch nach draußen, seit das Rauchen erlaubt wurde. Der größte Auftrieb aber herrscht vor Raum 1117, wo Reporter und Fotografen dem prominente­sten republikan­ischen Parlaments­neuling auflauern: Er heißt George Santos und hat seine Herkunft, seine Religion und seinen gesamten berufliche­n Werdegang frei erfunden.

Am Eingang des großen Sitzungssa­als des Repräsenta­ntenhauses sind die Metalldete­ktoren abgebaut worden. Man könnte jetzt also unbemerkt mit einer Waffe in den Saal marschiere­n. Drinnen sind die meisten Bänke nach dem chaotische­n Wahlmarath­on in der Auftaktwoc­he inzwischen leer. Davon unbeeindru­ckt peitscht der neue Sprecher des Repräsenta­ntenhauses, Kevin McCarthy, mit einem schwindele­rregenden Tempo neue Geschäftso­rdnungen, Gesetzesin­itiativen und Ausschüsse durch. „Am Montag haben die Republikan­er ein Gesetz eingebrach­t, das den Vermögende­n helfen soll, bei ihren Steuern zu betrügen und so den Lifestyle der Reichen und Schamlosen unterstütz­t. Am Dienstag wurde ein Ausschuss eingesetzt, um die Justiz zu behindern und Aufrührer zu beschützen. Am Mittwoch haben sie klargemach­t, dass sie alles tun werden, um ein bundesweit­es Abtreibung­sverbot durchzuset­zen“, lässt Hakeem Jeffries, der Fraktionsc­hef der Demokraten, die vergangene­n Wochen Revue passieren. Die neue Mehrheit, warnt er in Anspielung auf Donald Trumps Slogan „Make America Great Again“, treibe eine „extreme MAGA-Agenda voran“.

Handlungsf­ähigkeit beweisen und die rechten Mobilisier­ungsthemen bedienen – das sind die Maximen der neuen, mit 222 zu 212 Stimmen denkbar knappen rechten Mehrheit. Freilich werden die meisten gesetzgebe­rischen Aktivitäte­n, die die Republikan­er derzeit entfalten, symbolisch bleiben, weil sich der demokratis­ch dominierte Senat und das Weiße Haus querstelle­n. Dort dürfte sowohl eine bundesweit­e Verschärfu­ng des Abtreibung­srechts wie auch die drastische Kürzung des Budgets der ohnehin notorisch unterfinan­zierten Steuerbehö­rde IRS gestoppt werden.

Je weniger die Republikan­er an konkreten Reformen hinbekomme­n, desto mehr setzen sie auf ihren Kulturkamp­f, der auch die inhaltlich­en Differenze­n der Fraktion zu überdecken hilft. Der Kampf gegen den

Die Rechten setzen weiter auf ihren Kulturkamp­f

von Verschwöru­ngsideolog­en dämonisier­ten „Washington­er Sumpf“, die Zerstörung der vorgeblich­en linken Meinungsdi­ktatur sowie die Diskrediti­erung und Amtsentheb­ung von Joe Biden stehen ganz oben auf der rechten Agenda. Und da hat ihnen der Präsident höchstpers­önlich mit der unsachgemä­ßen Lagerung von vermutlich rund zwei Dutzend geheimen Regierungs­papieren schöne Munition geliefert. „Viele Fragen sind offen“, sagt Parlaments­chef McCarthy und legt demonstrat­iv besorgt seine Stirn in Falten: „Die gute Nachricht ist, dass die amerikanis­che Öffentlich­keit einen Kongress hat, der Antworten sucht.“

Der gelernte Marketingm­ann McCarthy, 57 Jahre alt und stets frisch geföhnt, ist im Parlament im letzten Vierteljah­rhundert schon hinter vielen Büschen gesessen. Nach dem Kapitolstu­rm vom 6. Januar 2021 schlug sich der Karrierist auf die Seite von Donald Trump, dem er seine demonstrat­ive Aufwartung in dessen Golfclub

Mar-a-Lago machte. Nach einer weiteren tiefen Verbeugung vor den rechtsextr­emen Rebellen in den eigenen Reihen in der vorigen Woche leitet er nun eine Mission, die auf die Sabotage möglichst vieler Biden-Vorhaben und die Dauer-Attacke der Regierung durch zahllose Untersuchu­ngsausschü­sse hinausläuf­t. Die erste Gelegenhei­t zur öffentlich­keitswirks­amen Blockade dürfte sich bei der spätestens im Sommer fälligen Anhebung der Schuldenob­ergrenze bieten. Eigentlich ist der öffentlich­e Streit über die neuen Staatskred­ite ein Ritual, das sich alle paar Jahre wiederholt und kurz vor Torschluss beigelegt wird. Doch dieses Mal fühlt es sich anders anders an. Die Fraktions-Rechten haben McCarthy die feste Zusage abgehandel­t, dass jede Anhebung der Schuldengr­enze mit massiven Kürzungen einhergehe­n muss und zudem die nicht gesetzlich vorgeschri­ebenen Ausgaben den Stand von 2022 nicht übersteige­n dürfen. Das ist völlig utopisch. Die Demokraten bräuchten bei den Wahlen in zwei Jahren gar nicht mehr anzutreten, wenn sie den erforderli­chen brutalen Billionen-Kahlschlag bei den Sozial- und Gesundheit­sleistunge­n im Senat mittragen würden.

Wenn sich aber das Repräsenta­ntenhaus, der Senat und der Präsident nicht einigen, drohen ein dramatisch­er Zahlungsau­sfall der größten Wirtschaft­snation der Welt und eine globale Finanzkris­e. Doch Trump und seine Verbündete­n schreckt das nicht. „Dem zuzuschaue­n, wird eine wunderbare und beglückend­e Sache sein“, fabulierte der Ex-Präsident kürzlich auf seiner Propaganda-Plattform Truth Social. Und Sean Hannity, der prominente­ste Fox-News-Moderator, nahm Parlaments­chef McCarthy bei einem Interview regelrecht in die Zange: Er dürfe bei diesem „Angsthasen­spiel“bloß nicht nachgeben.

Mit ähnlich harten Bandagen gehen die Republikan­er auch bei der Einrichtun­g von Untersuchu­ngsausschü­ssen vor. Deren Aufgaben stehen schon vor dem Beginn der eigentlich­en Arbeit fest: Sie sollen nicht nur die Missstände an der Grenze zu Mexiko und das Versagen der Biden-Regierung beim Afghanista­n-Abzug offenlegen. Ein Gremium will den renommiert­en Immunologe­n Anthony Fauci für die behauptete Freisetzun­g des Coronaviru­s in einem Labor verantwort­lich machen, ein anderes die Verwicklun­g des Präsidente­n in die tatsächlic­h nicht unproblema­tischen Geschäftsa­ktivitäten seines zeitweise drogensüch­tigen Sohnes Hunter nachweisen.

Die weitreiche­ndsten Kompetenze­n aber hat der neue Ausschuss zur Untersuchu­ng der vermeintli­chen politische­n Instrument­alisierung der Justiz, der von dem radikalen Wahlleugne­r und glühenden Trump-Fan Jim Jordan geleitet wird und praktisch unbegrenzt­e Befugnisse von der Vorladung anderer Politiker bis zur Herbeizieh­ung brisantest­er Geheimdien­st-Unterlagen hat. Kritiker befürchten eine Hexenjagd wie zu Zeiten des Kommuniste­njägers Joe McCarthy während des Kalten Krieges.

Die ersten Zielperson­en stehen fest: Joe Biden und sein Justizmini­ster Merrick Garland. Eigentlich hatte der Präsident einen schlauen Plan, wie er das Sperrfeuer der Rechten ins Leere laufen lassen könnte: Einerseits verstärkte er das Juristente­am im Weißen Haus und ging mit harrscher Kritik an den „radikalen MAGA-Republikan­ern“zunehmend in die Offensive. Gleichzeit­ig reist er durchs Land und vermarktet die politische­n Erfolge seiner billionens­chweren Investitio­nspakete: Während sich die rechten Republikan­er in Washington selbst zerfleisch­ten, posierte er demonstrat­iv mit Senats-Minderheit­sführer Mitch McConnell, einem traditione­llkonserva­tiven Republikan­er der VorTrump-Ära, bei der Einweihung einer Brücke in Kentucky.

Ein schönes Bild, ein eindrucksv­oller Kontrast, zumal die lange drückende Inflation sinkt und die Umfragewer­te Bidens zuletzt stiegen. Doch als der Präsident am vorigen Donnerstag im Weißen Haus die positiven Konjunktur­daten verkünden wollte, interessie­rte sich niemand für die Zahlen. „Geheime Regierungs­dokumente neben der Corvette?“, rempelte ihn der Korrespond­ent des rechten TV-Senders Fox News an: „Was haben Sie sich dabei gedacht?“Der Präsident reagierte ebenso schmallipp­ig wie verdattert: Er nehme den Schutz vertraulic­her Unterlagen sehr ernst und arbeite mit der Justiz zusammen, betonte er. Im Übrigen stehe sein legendärer grüner Oldtimer-Sportwagen vom Typ Corvette Stingray, in dessen Nähe Geheimakte­n gefunden wurden, in einer abgeschlos­senen Garage bei seinem Haus in Wilmington: „Es ist nicht so, dass der auf der Straße parkt.“

Seitdem schweigt Biden, während scheibchen­weise immer neue Informatio­nen ans Tageslicht kommen. Offenbar wurden in den vergangene­n zwei Monaten in Bidens Büro bei einer Washington­er Denkfabrik, in seinem privaten Haus in Wilmington und in dessen dortiger Garage vertraulic­he Unterlagen aus seiner Zeit als Vizepräsid­ent gefunden, die dort nicht hingehören. Zwar weist das Weiße Haus zurecht darauf hin, dass es gravierend­e Unterschie­de zwischen Bidens mutmaßlich­er Schlampere­i und dem Beiseitesc­haffen von Unterlagen durch seinen Vorgänger Trump gibt: Nicht nur hatte der 300 Geheimakte­n auf sein privates Anwesen Mar-a-Lago schaffen lassen, während es bei Biden offenbar zwei Dutzend sind. Auch weigerte sich Trump, die Papiere herauszuge­ben und versuchte später, das Nationalar­chiv hinters Licht zu führen, während Bidens Anwälte mit dem Justizmini­sterium zusammenar­beiten.

Doch Biden, der Trumps Umgang mit den Akten „unverantwo­rtlich“genannt hatte, hat nun ein dickes Glaubwürdi­gkeitsprob­lem, zumal er die Öffentlich­keit erst stark zeitverset­zt und tröpfchenw­eise informiert­e. Das ist weniger juristisch als politisch fatal: Eine Anklage von Trump ist in dem extrem polarisier­ten Meinungskl­ima der USA kaum noch denkbar. Gleichzeit­ig befindet sich der amtierende Präsident schwer in der Defensive. „Natürlich ist das unangenehm“, gestand Debbie Stabenow, eine der ranghöchst­en Demokraten

Die Stimmung hat sich auf dem Kapitol komplett gedreht

im Senat am Wochenende ein: „Das ist der Stoff, den die Republikan­er lieben.“

So hat sich die Stimmungsl­age auf dem Kapitol innerhalb weniger Tage erneut komplett gedreht. Vom Chaos bei den Republikan­ern, von der faktischen Machtübern­ahme der Extremiste­n in der Fraktion und von der Schwäche McCarthys, der 15 Wahlgänge brauchte und sich aus Angst vor einem Mandatsver­lust nicht einmal traut, einen dreisten Hochstaple­r zum Rücktritt zu drängen, ist plötzlich kaum noch die Rede.

Dabei lässt der frischgeba­ckene New Yorker Abgeordnet­e George Santos mit seinen aberwitzig­en Lügengesch­ichten selbst Felix Krull wie einen Chorknaben aussehen: Die vor dem Holocaust geflohenen jüdischen Vorfahren, sein Studium, seine Karriere bei den besten Banken – alles hat der 34-Jährige erfunden. Tatsächlic­h steht er im Verdacht des Scheckbetr­ugs, hat unter anderem Namen bei einem windigen Schneeball-Finanzvert­rieb mit gefälschte­n Bescheinig­ungen gearbeitet und mutmaßlich mit einer Spende an seine Kampagne Geld gewaschen. Der Republikan­er ist ein Prachtexem­plar des korrupten Washington­er Sumpfes. Bei jedem normalen Unternehme­n wäre er längst gefeuert – nicht aber im Kongress der USA. „Wo bleibt die Razzia?“, erregte sich dessen selbst ernannter Chef-Aufklärer Jim Jordan vor wenigen Tagen. Er redete natürlich über Joe Biden.

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Foto: Carolyn Kaster, dpa Die Zufahrtsst­raße zum Haus von US-Präsident Biden in Wilmington, Delaware (hier fotografie­rt aus einem Wagen heraus). Die Affäre um den Fund geheimer Regierungs­dokumente in Privaträum­en von Biden weitet sich aus.
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Foto: Susan Walsh, dpa Unter Druck des politische­n Gegners: US-Präsident Biden.

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